Torraumszenen, Fallrückzieher, Hechtköpfler, Kopfballduelle. Der Torhüter vor dem Elfmeter, von hinten fotografiert, der Schütze nimmt Anlauf. Erschöpfte Verlierer nach Spielschluss auf den Knien oder im Dreck. Solche Fussballfotos existieren zuhauf. Interessant sind sie meist nur für die Anhänger der jeweiligen Mannschaft und im tagesaktuellen Zusammenhang, bei der Berichterstattung über die jüngste Champions-League-Runde etwa.
Der 1971 in Chile geborene und im deutschen Bielefeld aufgewachsene Fotograf Reinaldo Coddou, Mitbegründer des erfrischend unkonventionellen Fussballmagazins «11 Freunde», hat eine andere Foto-Auswahl zusammengetragen: Bilder, die zwar auch von den magischen 90 Minuten erzählen, aber viel mehr noch davon, was diese 90 Minuten für die Menschen bedeuten.
Geschichten abseits des Profibetriebs
Ein Foto zeigt beispielsweise die Wand einer Eisengiesserei in einem Ort im äussersten Westen Deutschlands. Die weisse Wand ist gepunktet von den schmutzigen Abdrücken eines Balls, den die Dorfjugend in freien Minuten dort hinhämmert. Das Foto erzählt von stundenlangem Rennen und Kicken, von der Freude an der Bewegung, von Wochenenden und freien Nachmittagen, von Zeit, die verbracht werden will, vom Kampf gegen die Langeweile.
Ein anderes Bild zeigt gerahmte Fotos, wohl an der Wand einer schottischen Kneipe: Mannschaften und Spieler von Celtic Glasgow. Mitten drin: Papst Johannes Paul II., die Hände zum Gebet gefaltet. Das ist auch ein Dokument der Spannungen zwischen den Konfessionen – Erzrivale Glasgow Rangers ist protestantisch geprägt. Die Mannschaft als Glaubensbekenntnis.
Eine weitere Aufnahme bildet einen Fussballplatz in Sao Paulo ab. Der Boden ist nur karg mit Rasen überwachsen, fast überall liegt die rötliche Erde blank. Fast im Mittelkreis des Terrains wächst ein Baum. Daraus lässt sich ablesen: Hier ist Freiraum eine Mangelware.
Auch vormoderne Dokumente
Letztes Beispiel: 1964, der Trainer des Londoner Clubs West Ham mit einem Begleiter in der U-Bahn. Auf dem Schoss, in ein Tuch eingeschlagen, hält er die Trophäe vom Pokal-Gewinn, den Cup der Football Association. Heute unvorstellbar. Dieses Bild erzählt, wie Fussball war, bevor 1992 mit der Erfindung der Champions League die Kommerzialisierung siegte.
Gewinn für Auge und Kopf
Ästhetisch ist die Fotoauswahl im Band «Kunstschuss» auf sehr hohem Niveau. Inhaltlich auch, denn die meisten Aufnahmen gelten dem wirklich essentiellen Treiben: den unteren Ligen, den Zuschauern, Istanbuler Kindern auf einem abschüssigen Bolzplatz.
Kern der Sache ist ein schwarz-weisses Foto von 1946: Knaben auf einer Treppe auf Autogrammjagd. Was sie hinter der offenen Tür oberhalb der Treppe zu sehen versuchen, sehen die Betrachter nicht. Die Stars sind nicht im Bild. Im Bild ist die Hauptsache, die Menschen, gross und klein. Die den Fussball zu dem machen, was er manchmal ist: pure Emotion und gute Unterhaltung. Ein Paralleluniversum, in dem sich leicht alles andere vergessen lässt.