Alberto Giacomettis Ringen mit dem Material und sein Suchen nach dem richtigen Ausdruck gehören zu den grossen, Klischee gewordenen Erzählungen der grossen Kunstgeschichte. Ähnlich wie jene um Van Gogh und sein Ohr, oder Gauguin und die vergebliche Suche nach dem Paradies. Und wie bei all diesen Geschichten, ist natürlich auch viel Wahres daran.
Die Ausstellung «Material und Vision» macht dies sichtbar, indem sie ganz nah heran geht an den grossen Schweizer Kunststar der Moderne. Näher, als man ihm bisher je kommen konnte. Dabei sieht man nicht nur den Künstler, sondern auch den Menschen an sich in all seiner Verwundbarkeit.
Von der ersten bis zur letzten Skulptur
Das Herz der Ausstellung bilden 75 Gipse aus dem Nachlass Giacomettis. Nach dem Tod des Künstlers 1966 wurden die Gipse, meist Studien und Modelle für Bronzegüsse, aus dem Atelier in irgendeinen Lagerraum geschaffen und mehr oder weniger vergessen. 2006 schenkte Albertos Bruder Bruno dem Kunsthaus Zürich die Arbeiten. Mit grosser Sorgfalt wurden sie gereinigt, untersucht, restauriert.
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Nun werden die Gipse gemeinsam mit Arbeiten aus Bronze und Holz und einigen Gemälden in einer chronologisch geordneten Schau präsentiert, die Giacomettis künstlerischen Weg von der ersten bis zur letzten Skulptur nachzeichnet.
250 Werke vereint die Ausstellung: Familienporträts des jungen Alberto Giacomettis, Werke, die während seiner kurzen Ausflüge ins Surreale und fast Abstrakte entstanden. Und zahlreiche Arbeiten des berühmten Spätwerks, mit den langen, schlanken Figuren, stehend, schreitend, aufs Wesentliche reduziert und seltsam verloren im Raum.
Nicht loslassen
Die Ausstellung zeigt viele der bekannten Skulpturen Giacomettis nicht nur einmal. Die «Femme de Venise» aus dem Jahr 1956 bildet mit ihren verschiedenen Versionen eine eigene kleine Figurengruppe in Gips und Bronze.
Die Gipse sind dabei meist spannender als die Bronzegüsse, denn sie zeigen noch die Hand des Künstlers. Eine Hand, die nicht loslassen konnte. Die nicht fertig wurde. Selbst, wenn Giacometti die Gipse schon bemalt hatte, was er oft tat, konnte es geschehen, dass er hier und dort noch etwas einritzte oder abschabte.
Raffinierte Raumfluchten
Die Ausstellungsarchitektur bündelt die enorme Materialfülle, indem sie den Bürle-Saal mit einer Folge kleiner Kammern und Kabinette strukturiert. Als Massstab für diese Szenerie, von Ulrich Zickler entworfen, dient das Pariser Atelier Giacomettis.
Die raffinierte Raumflucht, in der zahlreiche Fenster und Passagen sich zu überraschenden Durchblicken und Perspektiven öffnen, erzeugt nicht nur eine spannende Dramaturgie.
Die kleinen Räume lenken den Blick aufs Detail. Auf die Fingerspuren des Künstlers. Auf das Machen, das Arbeiten, das hier deutlich als unendlicher Prozess fühlbar wird. Ein Prozess, indem die dringliche und unaufhörliche Auseinandersetzung mit dem Menschen im Zentrum steht, mit dem Menschen und der Darstellbarkeit seiner schwankenden Existenz.