Sticken und Weben gehört in der Schweiz nicht nur in die gewöhnliche Volksschule, sondern wird auch an den Kunsthochschulen gelernt und gelehrt. Das Wissen wurde in den letzten 100 Jahren vor allem von Dozentinnen weitergegeben. Allen voran stand die Künstlerin Sophie Taeuber-Arp. Sie dozierte in den 1910er-Jahren an der Kunstgewerbeschule Zürich in der Stickereiklasse.
Mit Taeubers innovativen, geometrisch bestickten Tischdeckchen fängt die Ausstellung «Der Textile Raum» an. Und sie endet im Heute: Bei einem textilen, politischen Kommentar zur aktuellen Flüchtlingskrise. «Welcome to Europe» heisst diese neue Arbeit von Anna Deborah Gerber. Es ist ein Teppich, gewebt aus Rettungsdecken. Wir kennen sie von Bildern schiffbrüchiger Flüchtlinge.
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Textilien, die den Raum kleiden
Ein ungeheurer Facettenreichtum fällt auf. Und: Die Werke stammen fast nur von Frauen. Sabine Flaschberger, Kuratorin der Ausstellung, erklärt: «Wenn Sie ‹Stickerei› hören, knüpft das an die Arbeiten an, die traditionellerweise in Frauenhand liegen. Das hat sich aus dem entwickelt.»
Die Ausstellung heisst nicht zufällig «Der textile Raum». Die gezeigten Werke bekleiden nicht den Körper, sondern eben den Raum. Das sind zum einen skulpturale Werke, riesige Macramé-Arbeiten, die wirken, als wären sie aus Schiffstau geknüpft. Oder filigran gewebte, farbig schimmernde Säulen, die im Raum hängen. Das sind aber auch alltägliche Raumtextilien, die in jedem Haushalt vorkommen. «Es ist eine unglaubliche Verschränkung zwischen Arbeiten wie Vorhängen, Teppichen, Hand- und Tischtüchern, die für den Verkauf gemacht wurden und wirklich freier Kunst», sagt Sabine Flaschberger.
Verfall und Schwerkraft
Ein gedämpftes Licht erhellt die Räume des Bellerive-Museums. Viel mehr braucht es auch nicht. Denn viele der Arbeiten leuchten wie von selbst, so intensiv ist ihr Farbenspiel. Aber die geringe Lux-Zahl hat noch einen weiteren Grund. Textile Arbeiten sind lichtempfindlich: «Gewisse Objekte unterliegen einem Verfall, gerade wenn sie beispielsweise Seide beinhalten. Das ist ein Produkt, das nach 100 Jahren oft langsam verfällt.»
Auch ungewollte Gerüche setzen den Werken zu. Und die Schwerkraft zerrt an den zum Teil gewichtigen Wandteppichen. Die Schau macht diese Vergänglichkeit zum Thema. Vor dem Museum hängt eine wespennestartige, gewebte Konstruktion in einem Baum. Die Künstlerin Ruth Issler-Fuchs hat das Werk jahrelang Wind und Wetter ausgesetzt. Ein verwittertes Stück Stoff, fast gruselig.
Nach einem Rundgang durch die reichhaltige Ausstellung bleibt: Die Faszination für das handwerkliche Können und die Möglichkeiten des künstlerischen Ausdrucks mit Textilien. Und es bleibt auch: Die Lust, selbst wieder mal, wie damals im Handarbeitsunterricht, zu sticken und zu weben.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 22.10.15, 12:10 Uhr