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Kunst Wenn die Privatwohnung plötzlich Kunstraum ist

Unerwartete Entdeckungen in ungewohntem Umfeld: Dies will ein Projekt in Zürich bieten. Es vereint Kunst nicht im Ausstellungsraum, sondern verteilt sie auf Wohnungen von Privatpersonen. «Don’t Talk to Strangers» lautet der ironische Titel dieser Vermischung von privatem und öffentlichem Bereich.

Im Zürcher Kunstraum Réunion stehen zur Zeit überraschende Objekte. Zwar kann der Besucher auch das eine oder andere Bild betrachten. Es sind aber vor allem Alltagsgegenstände, die den Raum füllen: ein durchgesessenes Sofa, Kleiderbügel, ein alter Drucker. Nicht das, was man gemeinhin unter Kunst versteht.

Wenn man sich die Projektidee vor Augen hält, macht die Ausstellung aber Sinn: Die Objekte sind Platzhalter für die eigentlichen Kunstwerke. Die eigentlichen Kunstwerke sind in den Zürcher Wohnungen, wo vorher die Alltagsgegenstände standen. Das Projekt vereint die Exponate also nicht zentral in einem Ausstellungsraum, sondern verteilt sie auf verschiedene Orte – und erst noch auf solche, die für eine Ausstellung ungewöhnlich sind.

Public Art im Privaten

In den Wohnungen leben Personen, die sich bereit erklärt hatten, in den vergangenen Tagen je einen Künstler zu beherbergen. Dafür erhielten sie ein sehr persönliches Andenken: Jeder der zehn Künstler hat ein eigenes Werk in den ihm unvertrauten vier Wänden geschaffen. Was aus Platzgründen weichen musste, stellten sie in die «Réunion». So ist das skurrile Sammelsurium im Kunstraum zustande gekommen, das den Ausganspunkt der Ausstellung darstellt.

Stefan Bumbacher aus dem Zürcher Kreis 4 gehört zu den Wohnungsmietern, die als temporäre Gastgeber fungieren. Er findet das Projekt spannend, erkennt darin aber auch einen Eigennutzen: Es sei nicht alltäglich, «dass ein Künstler eingeflogen» werde und die heimische Stube in ein Kunstwerk verwandle, sagt der der 34-Jährige – und kann sich ein Lächeln nicht verkneifen. Bumbacher beherbergte Federico Herrero. Der Costa Ricaner ist mit seiner abstrakten Malerei weltweit präsent. Zu seinen Steckenpferden gehört Public Art. Dieser Vorliebe konnte er in Zürich in ungewohntem Umfeld nachgehen: im Privaten.

Besucher kommen in Kontakt

Das Reizvollste am Projekt ist genau diese Wechselwirkung: Die Kunst wird aus dem öffentlichen Raum in den privaten getragen – und von dort wieder öffentlich gemacht, indem die Wohnungen für Besucher zugänglich bleiben. Diese Konstellation hat Herrero gereizt: Sie ermögliche eine andere «Form von Interaktion». Würden Fremde beim Besuch eines Museums nur selten miteinander in Kontakt treten, käme man in der ungezwungenen Atmosphäre von Privatwohnungen automatisch ins Gespräch – zumindest mit dem Gastgeber.

Wohnraum mit Tisch in der Mitte. Wände und Tischseiten sind grün bemalt.
Legende: In Stefan Bumbachers Wohnung im Kreis 4 wurden die Wände teilweise bemalt. Sein Tisch dient neu fürs Ping-Pong-Spiel. Silvan Lerch

Der Titel der Ausstellung, «Don’t Talk to Strangers», ist denn auch voller Ironie. Um die Kunstwerke zu besichtigen, müssen sich die Interessierten zwangsläufig mit Fremden austauschen. Nur indem sie in der «Réunion» zu Teilnehmerliste und Telefon greifen, erfahren sie, wann die Wohnungen zum Besuch offenstehen.

«Ging euch die Farbe aus?»

«Don’t Talk to Strangers» spielt bewusst mit dieser voyeuristischen Komponente. Sie wird wohl manchen Besucher mehr befriedigen als die teils doch sehr unkonventionellen Exponate. Das hat sich schon an der Vernissage letzten Donnerstag abgezeichnet. Federico Herrero übermalte in Stefan Bumbachers weissem Wohnzimmer Teile von Wand und Decke grün – was nicht jeder wahrnahm, geschweige denn als Kunstwerk. Das wird sich in den folgenden Tagen kaum ändern: «Leute, die noch nie bei mir waren, werden fragen: ‹Ging euch die Farbe aus oder warum ist dieser Raum nur zur Hälfte bemalt?›», freut sich der Gastgeber auf weitere irritierte Blicke.

Umso mehr Beachtung fand dagegen sein umfunktionierter Esstisch. Am Eröffnungsabend wurde darauf Pingpong gespielt. Da Herrero auch ihn punktuell grün angestrichen hatte, sollten wenigstens diese Flächen allen aufgefallen sein.

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