Es ist ein strahlender Morgen in Rösrath, dem Wohnort von Mary Bauermeister. Ihr Haus, mitten in einem verwunschenen Garten, kann man von der Strasse aus nur erahnen. «Handyfreie Zone» steht am Eingang. Kein Wunder: Mary Bauermeister besitzt weder Handy noch Computer, Radio oder CD-Spieler, ja nicht einmal eine Schreibmaschine.
Auf der Suche nach der Eingangstüre begegne ich ersten Kunstwerken - Prismenskulpturen, die das Sonnenlicht einfangen. Der riesige Garten mit den alten Bäumen ist voll von Kunst: bemalte Zirkuswagen, durch deren Fenster man Bilder und Kunstobjekte im Inneren sieht, ein Baumhaus, ein riesiger Kristall, Steinpyramiden, Geschnitztes, Geschriebenes.
Visions-Schäferei
Ein Wegweiser im Garten zeigt mir den Pfad zu einer «Visions-Schäferei». Mary Bauermeister hat sich ein wunderbares Reich geschaffen, das sie auch der Öffentlichkeit zugänglich macht. An jedem ersten Sonntag im Monat öffnet sie Haus und Garten dem Publikum und lässt die Menschen teilhaben an ihrer reichen Ideenwelt.
Im Innern des Hauses ist alles ebenso bewusst gestaltet. Auch wenn die Dinge zufällig da zu sein scheinen, sie sind es nicht. Wo der Blick hinfällt, trifft er auf Gesammeltes und Kunst: Bilder, reliefartige Steingebilde, Skulpturen, ein Prismentisch, eine Klangliege, Instrumente.
Erfülltes Künstlerinnenleben
Sehr produktiv war die Künstlerin ihr Leben lang. Als Geliebte, später als Ehefrau des Komponisten Karl Heinz Stockhausen hat sie sich auch intensiv mit Musik beschäftigt. Davon zeugen viele Partituren, ein auseinandergebautes Klavier und der weisse Flügel in ihrem Atelier, wo sie regelmässig Konzerte veranstaltet. Stockhausen, der Intellektuelle, der Konstrukteur hat sie, die anarchische Künstlerin, geprägt. Jahrelang war sie seine Muse.
Im Atelier herrscht eine kreative Stimmung. Hier ist der Ort, wo vieles entsteht: Mary Bauermeister ist gerade dabei, aus der deutschen Flagge einen gigantischen Zopf zu flechten – am Schluss soll nicht das Schwarz sondern das Gold oben sein. «Das würde Deutschland guttun», meint die Künstlerin lachend.
Spiralbilder, Prismen, geschliffene Linsen
Ganz besonders faszinierend sind die Spiralbilder aus farbigen, flachen Kieseln in allen Grössen. Zusammen mit ihren Kindern hat sie die Steine geduldig am Meer gesammelt. Indem sie die flachen Kiesel aufeinanderschichtet, kreiert sie wunderbar plastische Steinbilder.
Und dann sind da die vielen optischen Linsen: der Blick aus dem Fenster wird dadurch bewusst gelenkt und zu visuellen Ausflügen in die Märchenwelt der schwimmenden Dachgärten eingeladen. Man spürt sofort: Mary Bauermeister hat eine intensive Beziehung zur Natur. Mit dem geschliffenen Glas versucht sie auch, das Licht einzufangen, die Spektralfarben auf die Wände zu zaubern.
Beim Interview brechen sich die Sonnenstrahlen, die durch eine Linse am Fenster eingefangen werden wie ein Regenbogen auf dem Gesicht der 78jährigen Künstlerin, die jugendlich wirkt, kein bisschen müde und voller Energie.
Sie hat sich hier in Rösrath einen Traum verwirklicht. Doch ihre Visionen eines Fantasiereichs gehen noch viel weiter. Dieses utopische Reich, sagt sie, würde sie gerne gestalten.