Ulli Lust, Mitte zwanzig, angehende Künstlerin in Wien, liebt zwei Männer: den zwanzig Jahre älteren Schauspieler Georg, mit dem im Bett aber nichts mehr läuft, und den nigerianischen Flüchtling Kimata, den sie an einer Party abschleppt, und zu dem sie in sexueller Leidenschaft entbrennt.
Und dann ist da noch ein dritter Mann im Hintergrund, ihr Sohn Philipp, fünfjährig, der bei seinen Grosseltern auf dem Land aufwächst. Ulli besucht ihn so unregelmässig, dass er sie kaum als Mutter wahrnimmt.
Das ist ein Beziehungsgeflecht mit grossem Potenzial. Ulli Lust entfaltet mit ihren direkten, skizzenhaften und sich um Virtuosität foutierenden Zeichnungen eine Dringlichkeit und einen Sog, dem man sich kaum entziehen kann.
Tabulose Autobiographie
Mit «Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens» über ihre selbstzerstörerische Italienreise als Teenager sorgte Ulli Lust 2009 weltweit für Furore. Das Buch wurde in 13 Sprachen übersetzt und mit vielen Preisen ausgezeichnet.
Nun enthüllt die in Berlin lebende Österreicherin ein weiteres Kapitel aus ihren jungen Jahren. In «Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein» verarbeitet sie eine explosive, in einem Mordversuch gipfelnde Ménage-à-trois im Wien der frühen Neunzigerjahre.
Weder Opfer noch Täterin
Tabu- und rücksichtslos dringt sie ein in dunkelste Abgründe und verknüpft ihre Erfahrungen mit grossen Themen: Liebe und Sex über Alters- und Kulturgrenzen hinweg, die sexuelle Selbstbestimmung der Frau, alternative Familien- und Beziehungsmodelle, ethnische Vorurteile, Flüchtlingspolitik und der Traum von einer anderen Gesellschaft.
Das ist überzeugend, weil Ulli Lust sich weder als Opfer noch als Täterin zeichnet, sondern als junge, streckenweise reichlich naive, egoistische und sexuell anspruchsvolle Frau, die von der Situation und ihren Rollen als Gefährtin, Liebhaberin und Mutter überfordert ist.
Eifersucht, Sex und sexuelle Extasen
Dass Lust sich traut, kulturelle Vorurteile aufzugreifen und zu den Ambivalenzen und Stereotypen in ihrer Wahrnehmung und auch im Verhalten von Kimata zu stehen, statt sie politisch korrekt abzuschleifen, ist ihr hoch anzurechnen.
Ihr afrikanischer Liebhaber erträgt ihre Unabhängigkeit je länger je weniger. Seine Eifersucht und Ansprüche führen zu Gewaltausbrüchen, die sie in Angst und Schrecken versetzen. Dennoch lässt sie ihn immer wieder in ihr Bett.
Paradoxerweise untergraben just die wiederholten und ausgiebigen Inszenierungen ihrer sexuellen Ekstasen die Intensität und Komplexität der Erzählung – sie sind, im Vergleich zur restlichen Geschichte, seltsam stereotyp geraten.
Gescheitert und doch gelungen
Lusts Versuch, inmitten dieser verworrenen Situation «gut» zu sein, muss als gescheitert betrachtet werden. Am Schluss steht sie nicht als guter Mensch da, aber sie ist frei und hat ihre Selbstbestimmung wiedergefunden.
Die Qualität dieser Memoiren ist die Offenheit, mit der Ulli Lust ihr Scheitern und ihre Mitschuld daran in aller Deutlichkeit künstlerisch reflektiert.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 7.12.2017, 17:22 Uhr