Richtet man im Aargauer Kunsthaus sein Handy auf eine Landschaft von Hodler, wird das Gemälde auf dem Bildschirm lebendig: Ein Mensch klettert auf den Berg, ein Flugzeug fliegt vorbei. Wie das geht, zeigen in der Sammlung des Aargauer Kunsthauses zwei Primarschülerinnen.
«Der Niesen vom Heustrich aus» heisst das Landschaftsbild von Ferdinand Hodler. Primarschülerinnen und -Schüler haben es mit eigenen digitalen Kreationen erweitert, mit sogenannter Augmented Reality.
«Wir wollten es noch gruseliger machen!»
Nur wenige Schritte entfernt hängt das Bild «Ruine am Meer» von Arnold Böcklin. Die düstere Nachtstimmung des Bildes hat drei Drittklässler inspiriert: «Wir wollten es noch gruseliger machen!»
Betrachtet man die digitale Interpretation des Ölgemäldes aus dem 19. auf einem Tablet des 21. Jahrhundert, so werden aus Öl auf Leinwand animierte Pixel: Nebelschwaden ziehen auf, Blitze zucken, während Donner aus dem Lautsprecher grollt.
Die technische Umsetzung der Blitze sei schwierig gewesen, erzählen die drei Acht- und Neunjährigen: «Wir haben mit zwei Geräten gearbeitet. Auf einem haben wir Blitze ausgelöst und diese dann mit dem anderen Tablet aufgenommen.» Beim Donner sei es einfacher gewesen, den habe eine KI generiert.
Technik verändert den Blick auf Kunst
Rund 200 Kinder und Jugendliche entwickelten solche digitale Interpretationen im Rahmen einer Werkstatt, die die Pädagogische Hochschule der Nordwestschweiz zusammen mit dem Aargauer Kunsthaus durchführte.
Viele der jungen Teilnehmenden beschäftigen sich zum ersten Mal mit Kunst. Berührungsängste mit zeitgenössischen Werken scheinen sie keine zu haben. So fühlten sich zwei Drittklässler von Ben Vautiers Schriftzug «Suiza no existe» angesprochen. Das schlichte Bild – weisser Text auf schwarzem Grund – sorgte an der Weltausstellung 1992 für einen Skandal.
«Das stimmt doch gar nicht! Die Schweiz gibt es!», begründen die beiden leicht entsetzt ihr Interesse. Sie wollten das Werk demontieren. Mit Schere und Papier schnitten sie schwarze Streifen aus und deckten den Text auf einem Ausdruck ab, Einzelbild für Einzelbild. Die Aufnahmen setzten sie am Computer zu einer Animation zusammen. Auf dem Bildschirm verschwindet der Text und erscheint dann in einer neuen Version: «Suiza existe!»
«Sehr viel passiert in diesem Projekt analog», sagt Marcel Sieber, Dozent für Digitale Medien in Schule und Unterricht an der PH der Nordwestschweiz. Die Schülerinnen und Schüler basteln oft zuerst Figuren, arbeiten mit Papier und Schere, erst später mit Tablet oder Computer.
Fit für das 21. Jahrhundert
Im Zentrum steht nicht der Umgang mit digitalen Technologien, sondern das Aneignen von Fähigkeiten, die für das 21. Jahrhundert wichtig sind: Kreativität, Kommunikation und Kollaboration.
Auch für das Kunsthaus und dessen Besucherinnen und Besucher bietet das Projekt einen Mehrwert. Statt kunstgeschichtliche Erläuterungen zu hören, erfahren Besuchende, wie Kinder die Werke sehen und interpretieren. «Die Kinder öffnen einem die Augen für ein Werk», meint Jan Lässig, verantwortlich für digitale Projekte beim Kunsthaus Aarau.
«Man betrachtet diese Kunstwerke nachher ganz anders», so Lässig. Als Besucher ist man dazu eingeladen, Neues zu entdecken, auch wenn die technische Umsetzung der digitalen Erweiterungen nicht immer perfekt ist.