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Kunst Moriyamas schmuddeliges Tokio: in Farbe

Seit 50 Jahren dokumentiert der Japaner Daido Moriyama die Zerrissenheit des Landes zwischen Tradition und Moderne – in Schwarzweiss. In Paris werden erstmals seine Farbfotos ausgestellt: die Kluft zwischen Poesie und Pop knallt geradezu aus ihnen heraus.

Er bezeichnet sich selbst als «herumstreunenden Hund». Er streckt seine Kompaktkamera wie eine Nase überall hin. Besonders in die miefigen Ecken Tokios: in Gossen, Rotlichtmilieus, Billig-Shops. «Ich arbeite intuitiv, wie ein Tier», sagt der Künstler. Dazu passt: Viele seiner Bilder nimmt er aus der Hundeperspektive auf; er schiesst sie im Gehen aus der Hüfte, schaut nicht durch den Sucher.

Für Daido Moriyama ist alles bildwürdig, scheint es noch so banal zu sein. Seine Fotos entstehen intuitiv. Moriyama läuft gespannt durch die Strassen, wie ein Bogenschütze – bis seine Kamera wie von alleine auslöst.

Daido Moriyama

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Legende: Dreamstime

Daido Moriyama wurde 1938 in Ikeda geboren, einer Stadt bei Osaka. Er studierte Design und Fotografie. Seit 50 Jahren dokumentiert er die Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg; die Entstehung von Gegensätzen, die aufeinander knallen, von japanischer Tradition und Einfluss der USA. Er gilt als japanischer Popstar der Fotografie.

Eine Frau ist eine Frau ist eine Frau

Eine Frau auf der Strasse oder abgebildet auf einem Plakat: Das macht für ihn keinen Unterschied. Eine Frau ist eine Frau ist eine Frau. Diese Art des Fotografierens hat Daido Moriyama zu einem der bekanntesten Fotografen Japans gemacht.

Die intuitive Strassenfotografie des 77-jährigen Künstlers steht in der Tradition der Beat-Generation der 1960er-Jahre: Autoren wie Kerouac lasen Geschichten von der Strasse auf, so wie Moriyama Bilder.

Bedeutend ist Moriyama aber nicht nur durch seine avantgardistische Arbeitsweise, sondern weil er wie kein Zweiter die Veränderungen Japans der vergangenen 50 Jahren dokumentiert.

Seit Ende des Zweiten Weltkriegs fotografiert Moriyama Tokio, besonders den randständigen Bezirk Shinjuku. Seine Blicke fallen in Schaufenster, in denen ausländische Waren angeboten werden. In Nagel- und Tatoostudios, auf Kabel und Rohre. Seine Fotos zeigen den neuen Wind, den Wirbel, der seit den 1950er-Jahren in der Stadt weht.

In der Fondation Cartier in Paris wirken Moriyamas gross abgezogenen Fotos, als würden die Bilder auch dem Betrachter zufällig ins Auge fallen: Durch die grossen Glaswände der Fondation sieht man draussen den Verkehr vorbeirauschen. Drinnen hängen Moriyamas Fotos wie Plakate an Betonsäulen, an Bushaltestellen. Die Ausstellung greift Moriyamas Arbeitsweise auf und verstärkt dadurch die Wirkung seines Werks.

Mehrere tausend Bilder in 7 Jahren

«Der Künstler hat uns etwa 100 Fotos zur Auswahl geschickt. Wir haben aus einer Auswahl Collagen zusammengestellt», erklärt Kuratorin Leanne Sacramone. «Wir hatten keine rationellen Kriterien. Wir haben gesehen, dass einige Bilder visuell gut zusammen funktionieren: durch ihre Farbe, ihre Struktur, Komposition, das Thema.» Der Künstler stelle seine Werke auch intuitiv nebeneinander, in seinen über 200 Büchern.

«Daido Tokyo»

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Die Fondation Cartier in Paris zeigt Moriyamas Werk in der Ausstellung «Daido Tokyo» bis zum 5. Juni 2016.

Moriyama fotografiert, seitdem er Digitalkameras benutzt, ausschliesslich in Farbe, veröffentlicht die Bilder dann aber zumeist in konstrastreichem Schwarz-Weiss. Eine Auswahl seiner Farbbilder ist zum ersten Mal ausgestellt.

Grossstadt-Meditation in Schwarz-Weiss

Als Kontrast zu den Farbfotos präsentiert die Fondation Cartier auch 291 bislang unveröffentlichte Schwarz-Weiss-Werke. «Dog and Mesh Tights»: In einem Nebenraum der Fondation stehen zweimal zwei Leinwände wie aufgeschlagene Bücher. Fotos flackern als 29-minütige Diashow darüber. Dazu ertönen Strassengeräusche, Vogelgezwitscher, Durchsagen, Wortgewirr. Eine Grossstadt-Meditation.

Neun Monate ist Moriyama für diese Bilder umhergereist: durch Hong Kong, Taipei, Arles, Houston und Los Angeles. Er hat sich dabei zwei Regeln auferlegt: nur in Schwarz-Weiss fotografieren und immer in den Sucher schauen. Das ist ungewöhnlich brav für Daido Moriyama. Drum hat er sich mit der dritten Regel einen Querschlag erlaubt: alle Landschaftsbilder im Hochformat aufzunehmen. Das ist wieder ungewöhnlich, typisch Moriyama.

Video
«In Pictures»: Daido Moriyama bei der Arbeit (©Tate)
Aus Kultur Extras vom 02.03.2016.
abspielen. Laufzeit 11 Minuten 21 Sekunden.

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