Die Erde ist in einem erbärmlichen Zustand. Einige Jahrhunderte zuvor hat ein verheerender Krieg den Planeten verwüstet: Seither breitet sich das sogenannte «Meer der Fäulnis» aus. Das sind riesige Wälder aus baumhohen Pilzen, in denen monströse Insekten leben, und deren giftiges Miasma die Luft verpestet.
Das Überleben der Menschen steht auf der Kippe – doch statt sich zusammenzuraufen, führen sie lieber Kriege um den spärlichen Lebensraum und die letzten Ressourcen.
Der Animationsfilmer als Comiczeichner
Hayao Miyazaki ist vor allem bekannt für seine Animationsfilme: «Mein Nachbar Totoro» oder «Chihiros Reise ins Zauberland» sind Klassiker. Weniger bekannt ist, dass Hayao Miyazaki auch Graphic Novels gezeichnet hat: Sein Film «Nausicaä aus dem Tal der Winde» basiert auf seinem gleichnamigen Manga.
Miyazaki begann 1982 mit der Arbeit an «Nausicaä», die Verfilmung folgte bereits 1984. Der Erfolg des Films erlaubte Miyazaki die Gründung des Studio Ghibli. Weil ihn die Arbeit an Filmen völlig in Beschlag nahm, konnte er den Manga erst 1994 abschliessen.
In «Nausicaä aus dem Tal der Winde» bringt Miyazaki erstmals seine grossen Themen zusammen: Seine Sorge für die Umwelt, seine Nostalgie nach einfachen Gesellschaftsformen, sein Interesse an alternativen oder archaischen Energien und Technologien wie Windkraft und Keramik. Vor allem aber ist Nausicaä seine erste grosse weibliche Hauptfigur, eine starke und aktive Heldin, noch vor Mononoke oder Chihiro.
Nausicaä ist die Prinzessin aus dem Tal der Winde. Das abgelegene Tal wird von den giftigen Wäldern bedroht und von einem feindlichen Königreich angegriffen. Nausicaä, die mit einem unerschütterlichen Glauben an das Gute gesegnet ist, macht sich deshalb auf, die Menschen zu versöhnen, die Natur zu befrieden und die Welt zu retten.
Eine fulminante Dystopie
Das klingt nach Fantasy-Dutzendware – ist es aber nicht. Hayao Miyazaki ist ein Pessimist und entwirft in seinem über 1000 Seiten starken Epos zwischen Science-Fiction, Fantasy, Mythologie und Zeitkritik eine fulminante Dystopie. Dabei entpuppt sich die Graphic Novel als spannender und vielschichtiger als der Film.
In der Graphic Novel gibt es mehr Handlungsstränge, mehr Konflikte, mehr Wendungen. Es gibt auch mehr Figuren, und diese sind komplexer und widersprüchlicher und deshalb glaubhafter als im Film. Keine Figur ist nur gut, keine ist nur böse.
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Bild 1 von 5. Mit einer Feder und erdig-organischer brauner Tinte schraffiert Miyazaki seine Graphic Novel. Bildquelle: Nausicäa 1983 Hayao Miyazaki, 2025 Carlsen Verlag.
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Bild 2 von 5. Stilistisch erinnert die neuste Ausgabe eher an europäische Comic als an klassische Mangas. Bildquelle: Nausicäa 1983 Hayao Miyazaki, 2025 Carlsen Verlag.
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Bild 3 von 5. Dank modernster Drucktechniken kommt jeder einzelne Strich besonders gut zur Geltung und lässt die Illustrationen plastischer wirken. Bildquelle: Nausicäa 1983 Hayao Miyazaki, 2025 Carlsen Verlag.
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Bild 4 von 5. Der Text rückt in den Hintergrund, die detailreichen Bilder sprechen für sich. Bildquelle: Nausicäa 1983 Hayao Miyazaki, 2025 Carlsen Verlag.
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Bild 5 von 5. Kampf- und Flugszenen wirken besonders dynamisch. Bildquelle: Nausicäa 1983 Hayao Miyazaki, 2025 Carlsen Verlag.
Die Erzählungen und Perspektiven dieser Gefährtinnen und Widersacher Nausicaäs verknüpft Miyazaki zu einem ebenso vielschichtigen wie fesselnden Handlungsgeflecht, das immer wieder überraschende Wendungen einschlägt. Miyazaki bietet keine einfachen Lösungen an, und der Schluss ist, im Vergleich zum Film, düster und pessimistisch.
Alte Geschichte, aktuelle Themen
Auch visuell ist «Nausicaä» interessant: Miyazaki zeichnet ganz anders als in seinen Filmen. Die Zeichnungen sind nicht flächig und bunt, sondern mit einer Feder und erdig-organischer brauner Tinte detailreich schraffiert. Stilistisch steht Miyazaki damit näher beim europäischen als beim japanischen Comic. Diese neue Ausgabe bringt dank des gestochen scharfen Drucks die Zeichnungen endlich richtig zur Geltung.
Inhaltlich hat Nausicaä aus dem Tal der Winde» ohnehin nichts an Dringlichkeit verloren.