«Sich fügen heisst lügen.» Das ist einer der bekanntesten Verse des deutschen Schriftstellers Erich Mühsam. Mühsam war überzeugter Anarchist.
1919 war er an der Ausrufung der Münchner Räterepublik beteiligt. Der Versuch, im Freistaat Bayern eine sozialistische Republik durchzusetzen, wurde jedoch blutig niedergeschlagen.
Mühsam wanderte für Jahre ins Gefängnis. 1934 wurde er als eines der ersten Opfer der Nationalsozialisten im Konzentrationslager Oranienburg ermordet.
Langeweile in den Schweizer Bergen
Im August 1910 sind die bevorstehenden Katastrophen höchstens zu erahnen. Mühsam, der wegen sozialistischer Agitation gerade im Gefängnis war, ist gesundheitlich angeschlagen. Seine besorgten Brüder schicken ihn zum Kuraufenthalt in die Schweiz. In den Bergen von Château d’Œx im Kanton Waadt beginnt Mühsam mit dem Schreiben seiner Tagebücher, die er bis 1924 führen wird.
Er langweilt sich. Die Berge verstellen ihm die Sicht, und die anderen Kurgäste zeigen keinen Sinn für seine Talente. So bleibt Mühsam mit der weiten Welt beschäftigt.
«Ich komme mir sehr einsam vor – und nicht nur die örtliche Abgeschiedenheit tut das. Frieda ist von Frick schwanger. Lotte ist mit Strich auf Reisen und ich weiss nicht wo. Uli haust wieder in München und schreibt in jedem Brief um Geld. Spela verliess ich in Berlin sterbenskrank, Schenniss kümmert sich um sie, aber ich glaube, da ist nichts mehr zu hoffen.»
Ironische Kontraste
Solche Zitate aus Mühsams Tagebuch nimmt Jan Bachmann zum Ausgangspunkt seines Comics. Augenzwinkernd kontrastiert er sie mit erfundenen Szenen und schreibt mit Spielwitz Dialoge, welche die Tagebucheinträge ironisch unterlaufen.
Mit dieser eigenwilligen Herangehensweise verstellt Bachmann nicht den Blick auf die historische Figur Erich Mühsams. Im Gegenteil: Er schafft damit die angemessene Bühne für jene selbstironische und unverfrorene Persönlichkeit, die in Mühsams Tagebüchern immer wieder zum Ausdruck kommt.
Diese menschliche Nähe hat den Künstler Jan Bachmann angesprochen: «Ich kannte Erich Mühsam nur durch einzelne Parolen, bevor ich auf diese Tagebücher gestossen bin. Mit diesen Tagebüchern habe ich eine Figur kennengelernt, die sehr humorvoll ist, sehr unsicher auch. Sie hat Probleme, die auch ich habe: Geldprobleme, Probleme in der Liebe. Da ist hinter der Ikone plötzlich ein Mensch zum Vorschein gekommen.»
Ästhetik des Hässlichen
Jan Bachmann zeichnet mit wildem Strich. Alles steht schief. Aus nervösen Linien ergeben sich skizzenhaft-groteske Figuren. Es sieht ein wenig nach dem Werk eines Besessenen aus. Doch der expressionistische Stil passt zu Mühsam und dessen Zeit.
Jan Bachmann hat sein Handwerk gelernt, indem er seine Vorbilder abzeichnete. Diese gehören zum Pariser «Atelier des Vosges», das in den 90ern aktiv war.
Böse Ahnungen
Am Ende des Comic-Bandes ist Mühsam wieder in München. Von ständigen Geldsorgen geplagt, sehnt er sich nach schriftstellerischem Erfolg. In seinem Dachzimmer liest er von den sozialistischen Aufständen in Berlin, während unten auf der Strasse eine Artillerie vorbeizieht.
Böse Ahnungen werden wach. Auch sie finden in Bachmanns Comic ihren Platz: «Die Tagebücher spielen in einer Zeit, in der der Erste Weltkrieg noch in der Ferne liegt. Trotzdem ist er durch den Militarismus und die Aufrüstung schon spürbar. Doch Erich Mühsam ist mit Lust und Risikobereitschaft in diesen Kampf gegangen – und viel Humor. Es ist in der heutigen Zeit nicht schlecht, sich solche Rollenbilder vor Augen zu führen: Dass es Leute gab, die viel riskiert haben für eine andere Gesellschaft.»
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 1.5.2018, 6.50 Uhr