Ihr Wunsch: von ihrer Kunst ansatzweise leben zu können. Ihr Schicksal: ein jahrzehntelanger, existenzieller Kampf. Doch Lynn Hershman Leeson trägt es mit Humor: «Da ich meine Arbeiten nie verkauft habe, habe ich sie noch. Heute erziele ich damit hohe Preise.»
Der steinige Weg ist nicht spurlos an der 77-jährigen Amerikanerin vorbeigegangen. Die Künstlerin wirkt müde, erschöpft.
Ihrer Zeit voraus
Mitte der 1960er-Jahre wurde die Newcomerin eingeladen, im Museum der Universität Berkeley in San Francisco auszustellen. «Meine Werke hatten Sensoren und Sound. Keiner hatte das vor mir je gemacht», erinnert sich Hershman Leeson.
Es waren ihre «Breathing Machines» : Hershman Leeson fertigte Wachsmasken von ihrem eigenen Gesicht an, malte sie schwarz an. Näherte man sich so einer Maske, wurden Atemgeräusche von einem Tonband abgespielt. «Diese Idee hatte ich, als ich mit 24 wegen einer Herzmuskelerkrankung lange Zeit unter einem Sauerstoffzelt liegen musste. Das einzige, was ich hörte, war mein Atem.»
Geräusche gehören nicht ins Museum
Der Kurator brach die Ausstellung kurzerhand ab. Geräusche gehörten nicht in ein Museum, so die Begründung. Auch die schwarze Maske, mit der Hershman Leeson ein klares Zeichen gegen Rassendiskriminierung gesetzt hatte, dürfte für rote Köpfe gesorgt haben.
Eine solche Arbeit zur Zeit der Bürgerrechtsbewegung, als an der Uni Berkeley die Studentenrevolte losbrach, war ein «No Go».
Politische Künstlerin und Feministin
Hershman Leeson macht noch einen weiteren Fakt dafür verantwortlich, nicht ausgestellt worden zu sein: «Ich bin eine Frau. Ich hatte keine Förderer. Ich musste mein Werk erst in Deutschland ausstellen, um in Amerika bekannt zu werden. Da war ich 72!»
2014 hatte die Künstlerin eine Retrospektive im Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe. Ein Grossteil der Kunstwerke war noch nie ausgestellt gewesen: «Weil die Leute stets sagten: ‹Das ist keine Kunst›.»
Im Museum unerwünscht
Nach dem Erlebnis in Berkeley kehrte Hershman Leeson den Museen den Rücken und mietete 1973 ein Zimmer im Dante Hotel, in San Franciscos Rotlichtmilieu.
Dort platzierte sie zwei lebensgrosse Puppen im Bett und lancierte eine Ausstellung, die rund um die Uhr geöffnet hatte. Nach einem Jahr kam das abrupte Ende. Die Polizei räumte das Zimmer, nachdem ein Besucher zwei leblose Menschen gemeldet hatte.
Eine lebendige Installation
Noch im selben Jahr zog Hershman Leesons wohl bekanntestes Werk ins Hotel: Roberta Breitmore . Hershman Leeson oder ihre Doppelgängerinnen nahmen alternierend die Identität dieser Kunstfigur an, mit Make-up, Kostüm und Perücke.
Das Fazit dieser Installation, dokumentiert durch Privatdetektive, die Hershman Leeson engagiert hatte, war niederschmetternd. «Die alleinstehende Roberta wurde ausgegrenzt. Das war so damals. Und ist noch heute so. Viel hat sich nicht verändert», so Hershman Leeson.
Ihr Herz schlägt für Technologie
Lynn Hershman Leeson: Dieser Name steht für Pionierleistung. Nicht nur die «Breathing machines» oder Roberta Breitmore legen Zeugnis davon ab. Hershman Leeson arbeitete erstmals in der Kunstgeschichte auch mit Touchscreen und kreierte das erste interaktiv Video.
Dass Technologie ein Gewinn sein kann, registrierte sie bereits als Teenager. «Als ich 16 war, verhedderte sich eine Zeichnung von mir in einem Kopiergerät». Das Bild einer Frau wurde dadurch verstümmelt. «Aber es sah besser aus, als was ich gemacht hatte. Ich dachte, wenn Maschinen besser sind, dann arbeite ich eben mit ihnen zusammen.»
Fasziniert von der Wissenschaft
Fasziniert ist Hershman Leeson von der Wissenschaft. Magisch sei sie, wie die Kunst. Eine Liebe, die in ihren Genen verankert sein dürfte. Hershman Leesons Vater war Pharmazeut, ihre Mutter Biologin.
Ihr Bruder ist Arzt, ihre Tochter arbeitet in der Krebsforschung. Sie war es, die Lynn Hershman Leeson auch den Ansporn gegeben hatte, in Basel mit dem Pharmamulti Novartis zu kollaborieren.
Ein eigener Antikörper
Nachdem sich Hershman Leeson für die erste Retrospektive weltweit in Karlsruhe in ihrem Werk «The Infinity Engine» der Genmanipulation annahm, hat Novartis für die Ausstellung im HeK exklusiv einen Lynn-Hershman-Antikörper entwickelt. Er trägt den Namen der Künstlerin in seiner molekularen Struktur.
Von medizinischem Nutzen sei dieser Antikörper nicht, als Ausstellungsobjekt soll er aber die Hirnzellen der Besucher aktivieren.
Er soll Anreiz sein, sich gewahr zu werden, wofür wir die Errungenschaften der modernen Forschung einsetzen wollen: für die Zerstörung oder für Rettung unseres Planeten.