Die eine Wahrheit gibt es bei Pistoletto nicht. Das wird sofort deutlich, wenn man die Museumsräume durchschreitet. Pistolettos Werke seien offene Werke, sagt Direktorin Mara Follini. «Wir Besucherinnen geben den Werken Sinn, indem wir mit ihnen in Verbindung treten.»
Pistoletto macht es uns einfach, mit seinen Werken in Verbindung zu treten. Das schafft er mithilfe von Spiegeln, seinem Markenzeichen. Follini bleibt vor dem Spiegel, auf den Pistoletto seine beiden Eltern in Grossformat gemalt hat. Je weiter man sich vom Spiegelgemälde entfernt, desto mehr sieht man sich selber.
Der Spiegel werde zum Begegnungsort, erklärt Mara Follini. Die Aussenwelt trete in die Welt des Künstlers ein: «Dadurch entsteht Selbsterkenntnis und Neues.»
Venus und der Kleiderberg
Pistoletto setzt den Besuchenden auch einen Spiegel vor. Das Werk des Künstlers ist damit unweigerlich gesellschaftskritisch. Nicht immer braucht Pistoletto dazu einen Spiegel. Mara Follini bleibt bei Pistolettos Venusfigur stehen, die vor einem riesigen Berg von zerfetzten Stoffen T-Shirts und Jeans steht.
Es gehe hier einmal mehr um das Gleichgewicht zwischen den Gegensätzen, also um das Gleichgewicht zwischen Nacktheit und Kleider, erklärt Mara Follini. «Das ist eine starke Kritik an unserem Konsumverhalten».
Aufforderung zum Tanz
Einen Ausstellungsraum weiter finden sich die späteren Werke Pistolettos. Typisch hier sein Symbol des dritten Paradieses. Das sind, einfach gesagt, drei Kreise, die ineinandergreifen.
«Im ersten Paradies lebt der Mensch in Harmonie mit der Natur», erläutert Mara Follini. Im zweiten entferne er sich immer mehr von der Natur, um Neues zu erschaffen. Das habe zur Umweltverschmutzung und zu extremer Armut der einen und zu krassem Reichtum der anderen geführt. Das dritte Paradies ist der Ort, in dem ein Gleichgewicht zwischen der Natur und unserem Tun herrscht.
Dieses dritte Paradies gilt es noch zu erschaffen. Da sind wir alle gefordert. Das Kunstmuseum Ascona schafft mit seiner Pistoletto-Ausstellungen Gesellschaftskritik. Eine leise und unaufgeregte, die bei manchen Besuchenden lange nachklingen wird.