Die zarte Person vor mir ist 87 Jahre alt, packt einen Stuhl und trägt ihn kurzentschlossen durch die Sammlung des Lausanner Kunstmuseums. Wir sind auf der Suche nach einem ruhigen Ort für ein Radio-Interview.
In der Ausstellung von Silvie Defraoui ist der Lärmpegel hoch. Ihre Videoinstallationen sind dort zu sehen, die Sounds dröhnen durch die Räume. Die Klänge der Arbeiten sollen ineinander übergehen und sich vermischen, sagt die Künstlerin.
Schicht um Schicht
Was hübsch zurecht geputzt ganz allein für sich steht, ist Silvie Defraoui verdächtig. Und so vermischt sie Sachen, legt in ihrer Kunst gern Schicht um Schicht übereinander: Bilder über Klänge über Codes über Worte über Bilder.
«In unseren Köpfen schaut es genauso aus», sagt Defraoui. «Gedanken stehen nie allein, daneben sind immer tausend andere Dinge, wie die Frage: ‹Was gibt’s heute eigentlich zum Mittagessen?›»
In der Realität überlagern sich tausend Dinge, die perfekte Ordnung ist Illusion, denn die Welt ist unordentlich. Es lohnt sich also genau und sorgfältig hinzuschauen, um zu analysieren, zu unterscheiden und zu verstehen, wie Bedeutung konstruiert wird.
Das zeigen Silvie Defraouis Kunstwerke. Zum Beispiel «Ombres portées …», eine Fotoserie aus der Zeit des Shutdowns. Zu sehen sind die Schatten echter Palmen auf einem Stoff mit aufgedrucktem Palmenmotiv. «Ich spreche zwar in beiden Fällen von Palmen, hier aber ist Sprache viel ungenauer als die visuelle Wahrnehmung», sagt sie.
Auch die riesig grossen Fotomontagen, die ungerahmt an der Wand hängen, zerlegen Bilder und ihre Lektüren. In der Serie «Faits et gestes» liegen Blumen auf Katastrophenfotos von Überschwemmungen oder Bränden. Der friedliche Strauss auf dem Küchentisch vermischt sich mit den Katastrophenmeldungen aus der eben gelesenen Zeitung.
Wer näher rangeht, entdeckt in den Kunstwerken Löcher, alle paar Meter, ausgestanzt aus dem Fotopapier. «Ich mache gern Löcher in meine Werke», sagt Silvie Defraoui. «So kann ich zeigen: Das ist ein Bild. Dahinter liegt eine Wand, das Museum, die Welt.»
Das Loch macht also Kontexte sichtbar. Und zeigt, wie genau Silvie Defraoui hinsieht. Gelernt hat sie das als Kind.
In der sicheren Schweiz
Im Interview erinnert sie sich an den Garten ihrer Eltern in St. Gallen. Silvie Defraoui hiess damals noch Silvia Rehsteiner und beobachtete Ende des Zweiten Weltkriegs über den See hinweg, wie jenseits der Grenze Deutschland bombardiert wurde. Das habe sie geprägt, erzählt die Künstlerin.
Wie sich die Schweiz im Krieg verhielt, welche Umstände dazu führten, dass sie nicht bombardiert wurde, diese Fragen weckten in ihr eine politische Neugierde aufs Leben. Sie will sich nicht mit halbgaren Erklärungen zufriedengeben, sieht genau hin, analysiert, interpretiert und macht Kunst, die genau hinsieht und sorgfältig angesehen werden will.
Diese Genauigkeit im Umgang mit Bildern zeichnet das Werk der 87-jährigen Künstlerin aus; und sie ist hochaktuell in einer von Bildern und deren schnellen Lektüren geprägten Welt.