Sophie Calle verfolgte einst wie eine Detektivin einen Unbekannten auf der Strasse und dokumentierte seine Wege mit Fotos («Suite vénitienne», 1980). Oder sie durchwühlte als falsches Zimmermädchen die Dinge fremder Menschen in fremden Hotelzimmern («L’Hôtel», 1981).
Der voyeuristische Blick, Einbrüche in Intimsphären – das ist typisch für Sophie Calle. Sie kommt den Menschen nahe und bleibt doch seltsam distanziert.
Paradoxe prägen auch ihre konzentrierte Werkschau «Un certain regard» im Fotomuseum Winterthur. Eine der zentralen Arbeiten ist die Serie «Les Aveugles» (1986).
Was ist Schönheit, fragte Calle Menschen, die nie sehen konnten. Die Künstlerin gesteht im Gespräch, dass sie befürchtete, die Frage sei grausam.
Was Nichtsehende sehen
Trotzdem hat sie sie gestellt und viele Antworten bekommen. Schön, so sagen die blinden Menschen, sei etwa ein Schaf, vom eigenen Sohn zu träumen oder Alain Delon.
An den Wänden hängen Porträts der befragten Blinden neben Fotos der Dinge oder Menschen, die sie als schön erleben. Und ein kurzer Text mit der Antwort.
Bilder und Texte verband die französische Künstlerin schon immer zu einem Ganzen. Das Thema Sehen oder eben Nicht-Sehen, das Erinnern von Bildern, ihr Verlust: Das ist das Thema der Ausstellung «Un certain regard» im Fotomuseum Winterthur und der Folgeausstellung «Regard incertain» im Kunstmuseum Thun, die im Herbst eröffnet wird.
Verlusterfahrungen
Zentral für beide Ausstellungen ist die Serie «Que voyez-vous?» (2013), die leere Bilderrahmen zeigt. Nach dem Jahrhundert-Diebstahl 1990 im Isabella Steward Gardner Museum in Washington fehlen noch immer 13 Kunstwerke, untere anderem von Rembrandt, Vermeer oder Manet.
In Sophie Calles Arbeit denken Besucherinnen und Museumsangestellte über den Verlust dieser Bilder nach. Und die Künstlerin versucht sich an einem weiteren Paradox: den Verlust von Bildern zu zeigen.
Auch ihre Fotoserie «Detachement» beschäftigt sich mit dem Verlust. Sie dokumentiert die leeren Sockel nach der Wende 1989, nachdem die kommunistischen Denkmäler von einst abgeräumt wurden.
Und für «La dernière image» arbeitete Sophie Calle erneut mit Blinden. Sie fragte Menschen, die im Laufe ihres Lebens erblindeten, nach dem letzten Bild, an das sie sich erinnern.
Verlust macht Sophie Calle offenbar kreativ. Auf die Frage nach dem warum, reagiert die Künstlerin verhalten. So seien ihre Ideen eben. Und so ist Sophie Calle. Sie kommt einem nah und bleibt doch fern.