Wer gerne puzzelt oder bastelt kennt das Gefühl: Sich in eine Sache zu vertiefen ist ein befriedigendes Gefühl. Ebenso das Aussortieren von Dingen. «Ordnung entspannt das Gehirn», sagt Fabienne Sieger. Wenn jemand weiss, wovon sie spricht, dann sie.
Die 37-jährige Bernerin arbeitet als Ergotherapeutin, ist Mutter zweier Kinder und gibt im Kindermuseum Creaviva des Zentrum Paul Klee Bern Kurse im Sortieren. Das Besondere: Fabienne Sieger hat Autismus.
Soziale Interaktionen sind ihr eigentlich ein Graus. Trotzdem hat sie der Anfrage des Creaviva zugestimmt, weil sie die Welt manchmal gerne geordneter hätte: «Wenn zumindest die Teilnehmerinnen etwas sortierter aus meinem Kurs nach Hause gehen, dann ist das doch ein Anfang.»
Strukturen, Lichtspiel und Muster
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Ab Mai 2022 bietet Fabienne Sieger im
Creaviva
Bern Fotografie-Workshops an mit Schwerpunkt Strukturen (11.5.), Lichtspiel (22.6.) und Muster (21.9.).
Reizüberflutung und Alarmbereitschaft
Tatsächlich ist die Welt für Menschen mit Autismus komplizierter und unüberschaubarer als für neurotypische Menschen, also für Menschen, deren neurologische Entwicklung als sogenannt «normal» betrachtetet wird. Menschen mit Autismus sind einer ständigen Reizüberflutung ausgeliefert, weswegen ihr Körper andauernd in Alarmbereitschaft ist. Das sei ungemein anstrengend, sagt Fabienne Sieger.
Sortieren ist für Sieger ein wichtiges Werkzeug zur Selbstregulierung, weil dabei das Hirn zur Ruhe kommen kann. Am liebsten zerkleinert und sortiert sie Früchte und Gemüse, um daraus «Sortagen» herzustellen: quadratische Bilder, auf denen die geschnittenen Teile nach Grösse und Farbe ästhetisch angeordnet sind.
Diese Fertigkeit vermittelt Sieger in ihren Kursen, wobei sie auch Einblick gewährt, wie sie die Welt aus autistischer Perspektive wahrnimmt. Durch ihre Detail-Perspektive erkennt Fabienne Sieger in Alltagsgegenständen eine Schönheit, die anderen oft entgeht.
In ihrem täglichen Leben kommt Sieger der Drang zum Sortieren manchmal auch in die Quere, weil sie ihre Sortage-Exzesse nur schwer stoppen kann. «Wenn’s schnell gehen muss beim Kochen verwende ich Lebensmittel, die sich nicht ästhetisch aufreihen lassen. Teigwaren zum Beispiel.»
Buchhinweis
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In ihrem Buch «Einsortiert – Fragmente aus dem Leben einer Sortagefachfrau» beschreibt Fabienne Sieger anschaulich und mit viel Witz, welche Herausforderungen der Alltag an sie stellt. Autismusverlag, 2017.
Wer nun davon ausgeht, dass Siegers Wohnung und Kleiderschrank immer picobello aufgeräumt seien, irrt. «Mit Marie Kondo kann ich überhaupt nichts anfangen», sagt Sieger. «Beim Aufräumen der Wohnung müsste ich das grosse Ganze im Überblick haben. Das ist nicht meine Stärke. Mein Fokus liegt auf Details.»
Drei Fragen an Neuropsychologen Lutz Jäncke, Universität Zürich
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SRF: Warum mag es unser Gehirn gerne ordentlich?
Unser Hirn ist ständig mit Einordnen und Sortieren beschäftig, weil Ordnung Vorhersagbarkeit erzeugt. Das gibt uns Sicherheit und erst in Sicherheit können wir gut funktionieren.
Was ist im Gehirn von Menschen mit Autismus anders?
Zum einen fehlt der Filter in der Wahrnehmung. Das heisst, dass alle Sinneseindrücke – Worte, Geräusche, Gerüche, Bilder – mit der gleichen Intensität wahrgenommen werden. Das führt zu konstanter Reizüberflutung. Zum anderen sind die äusseren Hirnregionen nicht gut miteinander verknüpft.
Das heisst, dass diese Regionen nicht gut miteinander kommunizieren können. Das hat zur Folge, dass Reize, die von aussen kommen, nicht richtig einsortiert werden können. Das beschert grosse Ängste, Sorgen und Stress, denn der Körper ist in ständiger Alarmbereitschaft. Das wiederum ist für die Betroffenen enorm anstrengend und ermüdend.
Was passiert im Gehirn, wenn ich in eine Tätigkeit vertieft bin?
Wenn wir uns intensiv auf etwas fokussieren, etwa beim Lesen, Musikhören oder Meditieren, werden die Hirnaktivitäten in den äusseren Regionen heruntergefahren. Diese sind für die Verarbeitung von äusseren Reizen zuständig.
Durch dieses «Abschalten» des Aussen verlagert sich die Gehirnaktivität in die Mitte des Hirns. Es beginnt sich quasi mit sich selber zu beschäftigten und das empfinden wir als enorm wohltuend. Ausserdem wissen wir, dass solche Momente der Selbstheilung zuträglich sind.
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