Der Dokumentarfilm «Chair Times» stellt 125 Stühle aus der Sammlung des Vitra Design Museums vor. Auf der Website des Möbelherstellers wurde er über 230'000 Mal angeklickt.
Warum stösst der Film auf solches Interesse? Weil wir gerne anschauen, was wir nicht besitzen können, sagt der Kultur- und Medienwissenschaftler Johannes Binotto.
SRF: Warum interessiert die Geschichte von Stühlen so viele Menschen?
Johannes Binotto: Weil sich in Möbeln ganze Kulturgeschichten verbergen. Das Wohnen ist ein Gebiet der Kultur, das buchstäblich schon von allen Anfängen an existiert: In dem Moment, wo man «sesshaft» wird, sind Wohnen und Möbel ein Thema.
Gerade Möbel sind hochinteressant, weil in ihnen als Gebrauchs- und Alltagsgegenständen eine ganze Zeitgeschichte steckt. Das ist auch die Erzählung, die wir in diesem Dokumentarfilm zu sehen bekommen.
Die Design-Stühle, die im Film vorgestellt werden, sind sehr teuer. Ist es auch ein Liebäugeln mit dem Unmöglichen, wenn man sich so einen Film anschaut?
Ja, absolut. Genauso wie Kochsendungen geschaut werden, ohne dass man das Rezept dann nachkocht. Es ist eine Art Ersatzhandlung.
Das ist ein riesiges Genre, gerade in den sozialen Medien. Dort gibt es unzählige «Unboxing-Videos», in denen Leute Sachen einkaufen und sich dann beim Auspacken filmen. Teilweise wird das als Vorbereitung geguckt, weil man sich dieses Objekt vielleicht selber kaufen möchte.
Sehr oft bleibt es aber dabei, dass die Leute sich Filme anschauen über Objekte, die sie sich selber nicht leisten könnten.
Was ist die Lust dabei, sich das anzugucken?
Der österreichische Philosoph Robert Pfaller hat es «Inter-Passivität» genannt: Man hat einen Teil des Genusses, ohne sich anstrengen zu müssen. Ich kann quasi einen Teil des Konsums geniessen, ohne dass ich dafür Geld ausgeben muss.
Wir lesen ja auch Bücher, um Reisen zu machen, die wir selber nicht unternehmen können.
Ich muss die Gegenstände nicht einmal selbst auspacken. Auch das macht jemand anderes für mich. Es scheint eine Libido oder eine Ökonomie des Zuschauens beim Konsumieren zu geben.
Das passt gut zu unserem Konsumverhalten während der Corona-Krise: Auch als die Geschäfte geschlossen waren, konnte man noch «Window Shopping» betreiben – also anschauen, ohne zu kaufen.
Ja, genau. Ich würde das nicht nur negativ sehen. Ein wesentlicher Aspekt von Kultur ist genau das. Wir lesen ja auch Bücher, um Reisen zu machen, die wir selber nicht unternehmen können.
Die Unboxing-Videos sind vielleicht die letzte Schwundstufe davon. Ich würde das nun nicht gleichsetzen mit einem Reiseroman. Aber es scheint ein ähnlicher Antrieb dahinter zu stecken.
Das Gespräch führte Noëmi Gradwohl.