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Kunst «Wenn Sandra durch die Strassen geht, drehen sich die Leute um»

Sandra wurde als Junge geboren. Vor sechs Jahren liess sie sich operieren, um zur Frau zu werden. Fotografin Annick Ramp hat die Transgender-Frau porträtiert. Das Resultat ihrer sensiblen Annäherung sind Bilder eines vielschichtigen Menschen, dem es gelang, viel Leid zu überwinden.

Zur Person

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Annick Ramp, geboren 1987, lebt in Zürich. Sie arbeitet Teilzeit als Fotografin für die «NZZ»; nebenbei widmet sie sich eigenen Projekten. Ihre Porträts von Sandra sind vom 29. April bis zum 22. Mai 2016 an den Bieler Fototagen zu sehen.

Annick Ramp, was hat Sie am Thema Transgender interessiert?

Annick Ramp: Ich habe bei Sandra nicht in allererster Linie an Transgender gedacht, sondern an sie als Person und Mensch. Je länger ich mit ihr zu tun hatte, umso mehr habe ich mich dem Thema angenähert. Ich hatte zuerst einen journalistischen Ansatz, wollte herausfinden, wie sie sich selbst als sexueller Mensch sieht. Ich wollte mit ihr ihre Geschichte definieren, musste dann aber feststellen, dass das nicht geht. Sie ist ein sehr komplexer Mensch, der sich seine Persönlichkeit auch zu einem gewissen Teil konstruiert hat, das musste ich akzeptieren.

Wie war Ihr Verhältnis zu Sandra beim Fotografieren?

Wir hatten ein freundschaftliches Verhältnis. Ich ging nicht einfach hin und sagte, ich laufe dir jetzt hinterher. Zuerst musste ich Vertrauen aufbauen und feinfühlig sein. Es geht nicht, wenn man von Anfang an reinschiesst und in jeder Situation ein Bild macht. Als Fotografin darf man nicht das Gefühl haben, man könne in einer Woche eine solche Geschichte machen. Man muss immer wieder hingehen. Manchmal passiert tagelang nichts; man verbringt Zeit miteinander, ohne dass sich ein Bild, das für die Serie wertvoll ist, ergibt.

Wie nahe liess Sandra Sie an sich heran?

Sehr nahe. Für mich stellte sich vielmehr die Frage: Wie nahe will ich sie zeigen und aus welchem Blickwinkel? Ich konnte sie auch fotografieren, als sie nackt herumgelaufen ist. Aber danach musste ich feststellen, dass sie das gar nicht mehr so wollte. Man muss diese Feinheiten spüren und dann entscheiden, wie weit man als Fotografin gehen kann und will.

Fragten Sie sich nie, was ist jetzt weiblich und was männlich?

Sandra hat sich die Attribute, die offensichtlich weiblich waren, angeeignet. Sie hat mit dem auch gespielt: Mit den Haaren, mit den Ohrenringen, mit der Schminke, das ist fast eine Art Rituale geworden. Sie hat klar definiert, was für sie weiblich oder männlich ist.

Sie sahen Sandra aus weiblicher Perspektive. Wäre es anders gewesen, wenn ein Mann diese Portraits gemacht hätte?

Ja, sie hätte sich nicht von einem Mann fotografieren lassen. Es half mir sehr, dass ich auch eine Frau bin.

Wie hiess Sandra als Mann?

Sie hiess Andreas, man nannte sie Res.

Es gibt ein Bild, das Sandra mit ihrer Freundin im Bett zeigt. Wie kam es dazu?

Ich war zweimal bei ihr und ihrer Freundin. Das erste Mal machte ich zwar Bilder, aber dabei ist nichts entstanden. Ich wollte eine ruhige, fast träumerische Situation, um diese Beziehung aufzuzeigen. Beim zweiten Besuch hatte ich im Kopf, dass es schön wäre, die beiden beim Einschlafen oder Aufwachen zu fotografieren. Für mich ist diese Form der Intimität nicht aufdringlich. Ein, zwei solcher Bilder braucht eine Porträitserie.

Wie sehr inszeniert man beim Porträtieren?

Es ist immer eine Mischung zwischen Inszenierung und Dokumentation. Am Schluss hat man selbst ein Bild im Kopf, das man vermitteln möchte. Da gibt es gewisse Momente, die man noch vertiefen möchte, damit das Ganze abgerundet ist. Manche Momente forciert man auch, das ist aber heikel.

Gab es heikle Momente in Sachen Geschlechterdefinition?

An gewissen Tagen wirkte Sandra sehr weiblich, an anderen eher wieder männlich. Es war immer auch ein Hin und Her. Aber grundsätzlich habe ich sie als Frau wahrgenommen.

Das Thema Transgender ist immer noch ein Tabu in unserer Gesellschaft. Wie haben Sie das erlebt?

Wenn man mit Sandra durch die Strassen läuft, dann schauen sich die Leute um. Oder sie sagen immer noch «er» anstelle von «sie». Doch das schluckt Sandra einfach runter. Sie nimmt es hin, aber lässt sich nicht mehr davon beeinträchtigen. Aber natürlich ist das ein Thema, auch ihre Stimme, die teilweise männlich tönt. Wenn Sandra auf der Strasse redet, dann schauen die Leute. Ich wollte ihr Schicksal zeigen, und auch, dass nicht jeder hat einen geradlinigen Lebenslauf.

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