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Zürcherin Serpentina Hagner Die späte aber umso erfolgreichere Karriere als Comic-Autorin

Erst mit Anfang 60 veröffentlichte Serpentina Hagner ihr erstes Comic-Buch. Nun hat die Zürcher Zeichnerin einen grossen Auftrag aus Deutschland bekommen.

«In meiner Familie war es normal, dass alle malen und zeichnen», sagt Serpentina Hagner mit Blick auf die vielen Bilder in ihrer Wohnung.

Einige stammen von ihrer Mutter, die meisten aber von ihrem Vater Miggel Medardus Hagner, der sich als «Märchenmaler von Zürich» bezeichnete und als Stadtoriginal bekannt war.

Der Märchenmaler von Zürich

Serpentina Hagner zeigt eine Mappe mit einer filigranen, mit Silberstift gezeichneten Märchenerzählung, die ihr Vater eigens für seine Kinder gemacht hatte: «Diese Seite von ihm, wenn er für uns Märchen erfunden hat, war bezaubernd und sehr schön.»

Weniger schön war seine andere Seite: seine Alkoholsucht, seine Depressionen und seine Wahnzustände, in denen er die Familie und sich selbst manchmal bedrohte. «Es war Drama pur – man fühlte sich manchmal ungeheuer geborgen und drei Minuten später war es wieder ganz anders.»

Bewegte Familiengeschichte

Jahre später begann Serpentina Hagner, die bewegte Familiengeschichte ihres Vaters aufzuarbeiten – in Comic-Form. Das digitale Zeichnen brachte sie sich auf einem alten Computer selbst bei, ohne Kontakte zur Comic-Szene. Hauptberuflich arbeitete sie als Köchin in verschiedenen Kulturhäusern.

Ein Bild des Üetlibergs in Zürich
Legende: Gute Aussichten: Der Zürcher Hausberg Üetliberg. Serpentina Hagner

Sie entwickelte einen eigenen Stil, der durch ausdrucksstarke Porträts und feine, detailgenaue Architekturzeichnungen besticht. Rund 20 Jahre arbeitete sie an der Graphic Novel: «Es war eine Herzenssache, eine lange Entwicklung».

Ein ausgezeichnetes Werk

Zunächst hatte Serpentina Hagner nicht vor, die Geschichte zu publizieren. Doch dann bewarb sie sich für den Comic-Buch-Preis der deutschen Berthold-Leibinger-Stiftung.

«Ich bekam einen Finalisten-Preis, als erste Schweizerin überhaupt. Das gab mir Auftrieb und führte mich zur Edition Moderne», erzählt Hagner.

Ein Bild des Restaurants Du Pont beim Zürcher Bahnhof.
Legende: Ist heute ein Supermarkt: Das Restaurant Du Pont beim Zürcher Bahnhof. Serpentina Hagner

In diesem Schweizer Comic-Verlag erschien 2017 der erste, schön gestaltete Band «Der Märchenmaler von Zürich.» Im Herbst 2018 erschien der zweite Band «Der Blechbauchmaier».

Ungewohnter Blick auf Zürich

Die beiden Comic-Bücher geben Einblick in eine Seite von Zürich, die mit der zwinglianischen, properen Bankenstadt wenig zu tun hat. Die Geschichte beginnt bei Serpentina Hagners Urgrossmutter, die von Fahrenden abstammte.

Die Hauptfigur ist der Vater der Autorin: Miggel Hagner wuchs als heimliches Kuckuckskind in einer Arbeiterfamilie auf, mit einer Mutter, die sich in Affären und Phantasiewelten flüchtete.

In der Geschichte reichen sich menschliche Wärme und Abgründe ständig die Hand. An einer Stelle heisst es: «Jedes Mal, wenn meine Mutter abtreiben ging, hat sie mich zu Tante Mina gegeben.»

Bei dieser Mina, die in einer Wohnwagen-Siedlung von Schaustellern in der Hardau lebte, fühlte sich das Kind so wohl wie sonst nirgends.

Comic als unterschätzte Kunstform

Um die Vergangenheit wieder gegenwärtig zu machen, mit aller Emotionalität, findet Serpentina Hagner im Comic ein ideales Ausdrucksmittel: «Gute Comics sind wie Filme aufgebaut. Sie können poetisch und politisch sein. Die Tiefe dieser Kunstform wird oft unterschätzt.»

Ausschnitt aus einem Comic: drei Frauen mit bunten Kleidern.
Legende: Deutschland feiert 100 Jahre Frauenstimmrecht. Den Comic dazu zeichnet Serpentina Hagner. Serpentina Hagner

Umso mehr freut es sie, dass sie vom Deutschen Bundestag den Auftrag bekommen hat, einen Comic für eine Kunstausstellung zum Thema «100 Jahre Frauenwahlrecht in Deutschland» zu zeichnen.

Weshalb gerade eine Autorin aus der Schweiz – einem Land, das sich mit dem Frauenstimmrecht bekanntlich schwer getan hat – dafür ausgewählt wurde, kann sich Serpentina Hagner nicht erklären. Noch immer staunt sie über ihren späten Erfolg als Comic-Zeichnerin: «Das Leben ist verrückt. Ich hätte nie davon geträumt.»

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