Er hat schon bessere Zeiten erlebt, Zeiten, in denen man sich um seine Romane und Einmischungen riss. 1972 erhielt er gar den Literaturnobelpreis. Geholfen hat ihm die Ehrung nicht.
Inzwischen ist es schick geworden, Heinrich Böll kleinzureden. Ein Moralapostel und Querulant sei er. Säuerlicher Kitsch und stilistische Schlamperei werfen ihm die Kritiker vor. In seinen Büchern rieche es nach Suppenküche, billigem Tabak und Nachkriegsmief.
Einzelkämpfer und Vorzeige-Intellektueller
Allenfalls lässt man ihn als Vorzeige-Intellektuellen und «Gewissen der Nation» gelten. Aber Heinrich Böll verstand sich als Einzelkämpfer. Anders als Günter Grass hat er sich nicht in einer politischen Partei engagiert.
Er wollte immer nur für sich sprechen. Doch ist er bei all den Vorwürfen, die im Übrigen schon zu seinen Lebzeiten laut wurden, noch zu retten?
Nicht um Nachruhm gekümmert
Heinrich Böll hat sich als Schriftsteller im Hier und Jetzt verstanden. Er wollte als Zeitgenosse die anderen Zeitgenossen erreichen. Um den Nachruhm hat er, der 1985 starb, sich nicht gekümmert.
Die Kulturschickeria wie das Bildungsbürgertum hofften nach dem Krieg auf eine weltgewandte und glamouröse deutsche Literatur. An den Krieg und seine Folgen wollte man möglichst selten erinnert werden.
Keine Kompensationsliteratur
Heinrich Böll aber musste von den Trümmern schreiben, von den Folgen des Krieges und von den Menschen, die nichts haben. Denn Böll war selber vom ersten bis zum letzten Tag des Krieges gezwungenermassen Soldat gewesen.
Kompensationsliteratur war von ihm nicht zu haben. Zu Pathos und gelegentlich auch Kitsch neigte er, solange er zu wenig Distanz zu seinen Figuren und Erfahrungen hatte.
Werke mit Verfallsdatum?
Je kälter und ironischer Böll dann schreibt, je bewusster er mit den Mitteln der Satire beginnt, desto stärker wird seine Sprache. Eindrücklich ist dies zu bestaunen in «Doktor Murkes gesammeltes Schweigen» (1955), «Ansichten eines Clowns» (1963), «Gruppenbild mit Dame» (1971) oder «Die verlorene Ehre der Katharina Blum» (1974).
Heinrich Böll gilt unbestritten als verdienstvoller Chronist der Bundesrepublik Deutschland. Die Frage ist nur, ob auf seinen Werken ein Verfallsdatum klebt und dieses bei vielen Titeln längst überschritten ist.
Mag sein, dass nicht alles bei ihm gut gealtert ist. Aber wer behauptet, aus «Die verlorene Ehre der Katharina Blum» lasse sich nichts lernen über gegenwärtige Hasskampagnen, dem ist mit Literatur schlicht nicht zu helfen. Und selbst der viel gescholtene Spätroman «Fürsorgliche Belagerung» von 1979 ist hochbrisant, weil in ihm eine Welt totaler Überwachung geschildert wird.
Uneitel und unbequem
Nach wie vor aktuell ist aber vor allem das Prinzip Böll: So gänzlich uneitle Autoren, die sich einmischen, sind heute gefragter denn je. Heinrich Böll nahm nicht nur unermüdlich Stellung zu politischen und gesellschaftlichen Ereignissen, ohne sich von Parteien oder Organisationen vereinnahmen zu lassen.
Er ist vor allem der Inbegriff eines solidarischen Autors, der zum Beispiel bedrohten Kollegen im Ostblock wirksam geholfen hat. Heute ist Solidarität ein belächelter Begriff, aber wir ahnen alle, in der Schweiz wie in Deutschland, dass uns eine unsolidarische Gesellschaft noch teuer zu stehen kommen könnte. Heinrich Böll hat als Vorbild noch nicht ausgedient.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 20.12.2017, 09:00 Uhr.