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100 Jahre Marcel Reich-Ranicki Der polternde Literaturpapst mit Popstar-Image

Rüffeln wie Reich-Ranicki: Geht das heute noch? Gedanken eines Unter-Dreissig-Jährigen zum 100. Geburtstag von Marcel Reich-Ranicki.

«Er kann viel, dieser Martin Walser – erzählen kann er ums Verrecken nicht!»

Sätze wie dieser prägten sich ein. Kein Wunder war Marcel Reich-Ranicki bekannt wie kaum ein Büchermensch. Selbst wer nichts mit Literatur anfangen konnte, kannte den Onkel mit dem markanten Akzent, der zur besten Sendezeit mit erhobenem Zeigefinger Romane verriss.

Superstar der Kritik

1988 lief «Das Literarische Quartett» zum ersten Mal im Fernsehen. Reich-Ranicki gelang damit, was niemand für möglich gehalten hatte: über Bücher zu streiten und dabei traumhafte Einschaltquoten zu erzielen.

Florian Oegerli

Literaturredaktor

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Florian Oegerli arbeitet für die SRF-Literaturredaktion und ist Redaktor der jungen Literaturzeitschrift «Das Narr». Er studierte Germanistik und Philosophie in Basel und Leipzig und war redaktioneller Mitarbeiter der Zeitschrift «Literarischer Monat».

Durch seine Kritiken fand ich als Teenager in den Nullerjahren Zugang zur Literatur. Denn hier vermittelte einer Spass an deren Lektüre. Was man von meiner damaligen Deutschlehrerin weniger behaupten konnte.

Amazon statt Feuilleton

Würde er noch leben, er fände die Literaturlandschaft heute stark verändert: Die Feuilletons drucken immer weniger Buchbesprechungen, Literatursendungen wie zuletzt das «Bücherjournal» im NDR werden abgesetzt.

Und statt sich von Gross-Kritikerinnen und Kritiker durch den Neuerscheinungs-Dschungel lotsen zu lassen, orientieren sich heute viele lieber an den Kundenrezensionen bei Amazon & Co.

Alles, bloss nicht langweilen

Allerdings hat Reich-Ranicki diese Entwicklung als Kritiker selbst vorweggenommen. So brutal, wie bisweilen auf Amazon über Shakespeare oder Kleist geurteilt wird, so schonungslos ging auch er mit Autorinnen und Autoren ins Gericht. Denn Literatur mussten für ihn vor allem eines sein: unterhaltsam.

Darin unterschied sich Reich-Ranicki, der 1959 aus Polen nach Westdeutschland übersiedelt war, wohltuend von seiner Generation. Die deutsche Kritik der Adenauer-Jahre war moralisierend, verknöchert, akademisch – schlicht: langweilig.

Reich-Ranicki dagegen schrieb nicht nur witzig, sondern anschaulich. Und machte damit die Literaturkritik zum Ereignis.

«Halber Deutscher, ganzer Jude»

Nicht nur für die Literatur engagierte er sich. Als «halber Pole, halber Deutscher und ganzer Jude», wie er sich selbst einmal vorstellte, hatte er die Judenverfolgung am eigenen Leib erfahren und kämpfte für deren Aufarbeitung. Zum Beispiel mit der Autobiografie «Mein Leben», die ein Jahr lang auf Platz eins der Spiegel-Bestsellerliste stand.

Marcel Reich-Ranickis Leben und Karriere

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Marcel Reich-Ranicki war der einflussreichste deutschsprachige Literaturkritiker seiner Generation. 1920 in Polen geboren, zog er mit 9 Jahren nach Berlin.

Als Jude durfte er während der NS-Zeit nicht studieren. 1940 zwang man ihn, im Warschauer Ghetto zu leben. Nur mit Glück entging er der Ermordung durch die Nazis.

Nach dem Krieg arbeitete er für den polnischen Geheimdienst und als Lektor. 1958 zog er nach Westdeutschland und machte sich einen Namen als Literaturkritiker, von 1960 bis 1973 bei der ZEIT, 1973 bis 1988 als Leiter der Literaturredaktion der FAZ.

Er begleitete und verdammte Autoren wie Grass und Handke und immer wieder auch Schweizer wie Frisch, Dürrenmatt, Bichsel und Burger.

Ab 1988 brachte er es mit der ZDF-Sendung «Das Literarische Quartett» zu Berühmtheit: 2010 sollen ihn laut einer Umfrage 98 Prozent der Deutschen gekannt haben.

Nach dem Ende des ursprünglichen Formats im Jahr 2001 gab Reich-Ranicki im Insel Verlag seinen «Kanon» heraus, eine Sammlung der deutschsprachigen Werke, die er als zentral erachtete.

Am 18. September 2013 starb Reich-Ranicki in Frankfurt a.M.

Rückständige Ansichten

Leider konnte er auch rückständig und unreflektiert sein. Vor allem, wenn es um schreibende Frauen ging. Oder den Feminismus.

In seinem Romankanon etwa findet sich kein einziges Werk einer Frau. «Frauen können keine Romane schreiben», so die Begründung. Als Juror für den Bachmannpreis brachte er eine Teilnehmerin mit den Worten «Wen interessiert schon, was die Frau […] fühlt, während sie menstruiert?» zum Weinen.

Und das «Literarische Quartett» zerbrach 2000, weil er seine Co-Kritikerin Sigrid Löffler als lustfeindlich beschimpfte, nachdem diese einen von ihm vorgeschlagenen Roman bemängelt hatte.

Literaturhinweise

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  • Marcel Reich-Ranicki: «Mein Leben». DVA, 1999.
  • Marcel Reich-Ranicki: «Der Kanon». Insel Verlag, 2002 - 2006.

Aus der Zeit gefallen

Für mich gehört Marcel Reich-Ranicki in eine vergangene Ära. Die Zeit der Literaturpäpste ist vorbei. Zum guten Glück. Der Literaturbetrieb ist heute demokratischer und vielfältiger. Auch die Diskriminierung von Autorinnen bessert sich, obgleich nur langsam.

In Erinnerung bleibt er als markante Figur. Als Aussenstehender, der den Deutschen ihre Literatur näherbrachte. Mit «Mein Leben» gebührt dem Zeitzeugen der Schoah zudem selbst ein Platz in der deutschen Literatur.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktuell, 02.06.2020, 7:20 Uhr

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