Auftritt an Auftritt. Es geht wild zu her, punkig! Ein Mann rezitiert einen schrägen Theatermonolog, ein anderer schreit sinnlos herum, raucht beim Auftritt, eine Frau skandiert Stabreime. Ein Mann kritisiert wortgewandt die Weltpolitik, einer wälzt sich am Boden und rappt Versatzstücke. Es fliesst Alkohol auf der Bühne. Eine Frau schweigt standhaft. Das Publikum buht, die Jury muss einschreiten. Es ist schrill.
Wilde Anfänge
So erinnern sich Schweizer Poetry-Slammer an die ersten Slams in der Schweiz. «Es war sehr experimentell», sagt Richi Küttel, der heute Kulturorganisator ist. «Es war ein offenes Happening ohne viele Regeln», schaut Matto Kämpf zurück. «Rock’n’Roll ohne Musik», schmunzelt Suzanne Zahnd. Sie erzähle davon lieber keine Details.
Nur Etrit Hasler schüttelt den Kopf: «Die Anfänge werden gern mythologisiert.» Da sei auch mal ein Langzeitstudent gekommen und habe auf der Bühne «Ficken» gesagt und damit einen Auftritt gestaltet. «Mit dem holt man heute keine Punkte mehr – und das ist auch gut so.» Die Slammer der ersten Stunde sind sich aber einig: Stilistisch und formal gab es früher mehr Variation als heute.
Das Schlag-auf-Schlag-Konzept aus den USA
Poetry Slam entstand lange vor den ersten Schweizer Veranstaltungen in den USA. Der Bauarbeiter und Dichter Marc Kelly Smith gründete 1985 in Chicago ein Künstlerensemble mit Schriftstellern, Dichtern und Schauspielern.
Ab 1986 zogen sie eine wöchentliche Gedicht-Show auf, «The Uptown Poetry Slam». Das Wort Slam war offenbar in Anspielung auf einen Schlag im Baseball. Denn es sollte Schlag auf Schlag gehen: Teil der Show war ein vom Publikum bewerteter Dichterwettstreit, an dem man auch spontan teilnehmen konnte.
Rasch verbreitete sich das Konzept. In New York wurden einfache Regeln fixiert, das Fernsehen sprang auf und der Wettstreit wuchs zu landesweiten Poetry Slams.
Die wichtigsten dieser Regeln haben bis heute Bestand: Ein Slam-Text muss selbst geschrieben sein, es gibt eine fixe Zeitvorgabe, keine Requisiten sind erlaubt. Es gibt einen symbolischen Siegerpreis – meist eine Flasche Whisky, die man nach dem Slam gleich öffnet und zusammen trinkt.
Um 1992 schwappte die Welle nach Europa, zuerst nach England und Skandinavien. Der erste Poetry Slam Deutschlands fand 1993 statt. Der Schweizer Schriftsteller Christian Uetz trat mit anderen deutschsprachigen Künstlern in den USA auf. Bereits 1997 folgte die erste deutschsprachige Meisterschaft in Berlin.
Der Weg in die Schweiz
In die Schweiz kamen Poetry Slams zeitgleich auf zwei verschiedenen Wegen. Sowohl der Berner Benjamin Dodell sowie das Luzerner Duo Matthias Burki und Yves Thomi hatten solche Slams in Deutschland erlebt. «Wir fuhren nach Berlin, weil wir auf der Suche nach neuen Inszenierungsformen für Literatur waren», erzählt Matthias Burki, der heute den Verlag «Der Gesunde Menschenversand» leitet.
Dodell organisierte 1998 den kleinen «Barak-Slam» in Bern-Liebefeld, an dem unter anderen Lukas Bärfuss, Matto Kämpf, Raphael Urweider und Jürg Halter teilnahmen. Die Luzerner Burki und Thomi starteten gleich eine Nummer grösser. Sie stellten eine Truppe zusammen, die zwei Saisons lang eine Poetry-Slam-Tournee durch die Deutschschweiz machten.
Bei der ersten Ausgabe 1999 stand eine Reihe von klingenden Namen auf der Bühne. Neben drei deutschen Gästen waren dabei: Musikerin und Ex-DRS3-Moderatorin Suzanne Zahnd, Singer-Songwriter und Autor Tom Combo, Choreograph und Tänzer Philipp Egli, Dichter und Sänger Jurczok 1001, Autorin Melinda Nadj Abonji, Schriftsteller und Regisseur Raphael Urweider, Journalist Max Küng, Journalist Constantin Seibt, Kabarettist Ralf Schlatter, Schriftsteller René Oberholzer sowie – als Duo – Schauspieler Dominik Burki und Lehrer Raffael Meier.
Etablierte geben dem Poetry Slam Schwung
Eine illustre Runde, 23 bis 38 Jahre alt. «Die meisten waren schon etabliert und suchten nach neuen Darstellungsformen», sagt Etrit Hasler, der zurzeit an einem Buch über 20 Jahre Poetry Slam in der Schweiz arbeitet.
Suzanne Zahnd beispielsweise war eine bekannte Punk-Sängerin und Kolumnistin. Beide Tätigkeiten halfen ihr auf der neuen Slam-Bühne, sagt Zahnd. «Als Musikerin kannte ich die Bühne, als Kolumnistin die Pointe.»
Die Poetry Slams fanden laut Matthias Burki bei Publikum, Presse und Kulturförderung rasch gute Resonanz. «Einzig der traditionelle Literaturbetrieb war sehr skeptisch.» Viele Autoren mussten sich positionieren – für oder gegen diese neue Form von Literaturvermittlung.
Poetry Slam als Einstieg
Die zweite Generation von Schweizer Slammern waren Neueinsteiger. «Poetry Slam ist eine ideale Plattform, um das Auftreten zu lernen», sagt Etrit Hasler. Er stieg im Jahr 2000 ein. «Ich bin dann jahrelang Woche für Woche durch Deutschland gereist und dort an Slams aufgetreten.»
Schon früh wollte Hasler dann in St. Gallen selbst Slams organisieren und holte dafür deutsche Dichterkollegen in die Schweiz. Im Dreieck St. Gallen, Frauenfeld, Kreuzlingen habe sich ein Zentrum entwickelt. Hasler lachend: «Damals war Zürich Slam-Provinz.»
Leute wie Gabriel Vetter, Pedro Lenz, Simon Libsig, Simon Chen, Stefanie Grob oder Lara Stoll verdienten sich an Slams die Bühnensporen ab.
Erfolgreich in der Szene – aber nicht für immer
Neben diesen Neueinsteigern blieben auch einige Etablierte erfolgreich. Jürg Halter wurde im Jahr 2000 bei den deutschsprachigen Meisterschaften Dritter. Ralf Schlatter wurde 2001 Zweiter, Daniel Ryser 2002 ebenfalls. Gabriel Vetter holte 2004 in Stuttgart gar den Titel.
Suzanne Zahnd, Sibylle Aeberli und Tom Combo performten sich als «Team Winterthur» 2001 zum Titel im Team-Wettkampf. Die Gruppe tourte anschliessend durch die Schweiz. Das war’s dann aber für Suzanne Zahnd: «Slams haben mich zu langweilen begonnen, ich brauchte das nicht mehr.»
Viele Slammer blieben nicht lange in der Szene. Jürg Halter und Daniel Ryser verabschiedeten sich laut und wendeten sich anderen Projekten zu. Andere wuchsen einfach aus der Szene heraus. «Irgendeinmal hat man keine Lust mehr, für sechs Minuten nach Herisau zu fahren», beschreibt es Matto Kämpf. «In meinem Alter geht der Kater viel länger als der Suff», erklärt Richi Küttel.
Über Poetry Slams ins Kabarett
Etrit Hasler, Richi Küttel und Matthias Burki haben sich abseits der Slamwelt einen Lebensinhalt geschaffen. Andere erarbeiten abendfüllende Programme, Musik- und Buchprojekte. Viele fanden im Kabarett eine neue Bühnenheimat: «Heute stammen fast alle Kabarettisten der Deutschschweiz aus der Slam-Szene», sagt Hasler, durchaus ein bisschen stolz.
Wer hier seine Sporen abverdient und etwas zu sagen hat, wer die Bühne liebt und das nötige Glück hat, kann durchstarten. Hazel Brugger etwa hat die Schweizer Slam-Welt auf dem Weg nach Bühnen-Deutschland richtiggehend durchlauferhitzt. Die Rakete ist erst 24 und heute gefeierte Kabarettistin.
Für Nachwuchs sorgen
Die Poetry-Slam-Szene erneuerte sich laufend: Etablierte machten Platz für neue Slammer, ja viele sorgten sogar höchstpersönlich für Nachwuchs. Schulworkshops, U18-Ateliers und eine U20-Meisterschaft vergrösserten die «Slamily», wie sich die Slam-Gemeinschaft zuweilen nennt.
Auch der Schweizer Nachwuchs hatte Erfolg: Lara Stoll wurde 2006 deutschsprachige U20-Meisterin. Laurin Buser holte diesen Titel 2010, Jonas Balmer 2015.
Schweizer Slam-Szene
Viele Nachwuchs-Slammer beginnen in ihrer Bildungssprache und wechseln dann mit der Zeit in die Mundart, die Herzenssprache: «Anfangs traten Deutschschweizer mit standarddeutschen Texten auf, damit sie in Deutschland verstanden wurden», sagt Etrit Hasler.
Mit mehr Auftrittsmöglichkeiten in der Schweiz performten immer mehr in Mundart. Ostschweizer Dialekte etwa bekamen dank Gabriel Vetter, Renato Kaiser, Lara Stoll, Richi Küttel und anderen Aufwind. Und auch der aktuelle U20-Meister Max Kaufmann aus dem basellandschaftlichen Allschwil hat schon umgestellt: «Mundart ist fürs Texten viel natürlicher.»
Von einer eigenständigen Schweizer Slam-Szene spricht Etrit Hasler ab etwa 2010. «Eine Szene wird von der Sprache geprägt.» Erst mit dem Wechsel zur Mundart habe sich deshalb aus der deutschsprachigen eine eigene Schweizer Szene herausgebildet. Auftrieb gab ihr, dass es hier immer mehr Auftrittsmöglichkeiten auf dem Land gibt. So könnten immer mehr Künstler von Auftritten leben, sagt Hasler. Auch weil hier faire Preise gezahlt würden – in Deutschland sei das meist anders.
In Deutschland sind die Themen politischer
Die Szene wird auch inhaltlich schweizerischer. In Deutschland sei aktuell eine Nationalisierung der Themen zu beobachten, sagt Richi Küttel: «Aufgrund der Aktualität mit AfD, Chemnitz und so sind deutsche Slammer momentan viel politischer. Bei den Schweizern spürt man manchmal den Wohlstand in den Texten.»
Den Biss vermisst auch Suzanne Zahnd: «Politisch gibt es heute eher nette Anspielungen als scharfe Angriffe.»
«Comedysierung ist hanebüchener Blödsinn»
Wichtiger als politische Angriffslust ist hierzulande oft der Humor. Der Schweizer Slammer Matto Kämpf hat den Geschmack des Publikums durchschaut und daraus ein Erfolgsmodell entwickelt:
«Mit hochdeutschen Tiergeschichten war ich völlig erfolglos unterwegs. Drum habe ich mundartlich-kurze Schauergeschichten von Berglern erfunden. Mit ‹Isch es wahr, dass…› kam ich dann auch ins Finale.» Lachend gesteht er: «Ich trage eine Mitschuld an der Comedysierung der Slams.»
Diese «Comedysierung» wird den heutigen Slampoeten oft vorgeworfen. Sie hätten nicht mehr die Lust an Dada und Anarchie. Sie wollten einzig unterhalten und zum Lachen bringen.
Wieder relativiert Etrit Hasler: «Die Comedysierung ist hanebüchener Blödsinn.» Alle bisherigen Schweizer Meister wie Lara Stoll, Gabriel Vetter, Renato Kaiser, Hazel Brugger, Christoph Simon, Dominik Muheim und Kilian Ziegler hätten schon oft bewiesen, dass sie auch die leisen Töne beherrschten.
Auf professionellen Bühnen professionell einsteigen
Schweizer Slammer sind also durchaus mehr als blosse Witzereisser. Formal hat Matto Kämpf aber beobachtet, dass heute regelmässige Pointen kommen. Und viele Slammer erreichten schon nach fünf von sechs Minuten den Höhepunkt. Diese formale und inhaltliche Angleichung der Auftritte hat Vor- und Nachteile – für Künstler, Veranstalter und Publikum.
Die Künstlerinnen und Künstler haben voneinander gelernt. Richi Küttel: «Bevor einer selbst auf die Bühne geht, hat er Dutzende Slams und Youtube-Videos angeschaut.» Selbst ein Anfänger wisse, was er wolle und was nicht.
«Slams finden nicht mehr in verrauchten Alternativkellern, sondern eher in Stadttheatern und auf dem Land statt», so Küttel. Umgekehrt ist bei dieser Grösse das Scheitern keine Option mehr: «Es ist viel leichter vor 50 Leuten etwas Schräges auszuprobieren und auf die Nase zu fallen als vor 500.»
Und Veranstalter sowie Publikum wissen, was sie erwarten können. Pfeifkonzerte gibt es nicht mehr, der Auftritt wird respektiert, auch wenn er mal weniger gefällt. Professionalisierung überall.
Der Wettbewerb als Erfolgsrezept
Trotzdem bleibt bei Poetry Slams der Spass im Vordergrund. Doch die Anziehungskraft ergibt sich aus dem wettbewerbsähnlichen Rahmen. Er ist roter Faden und Trumpf jedes Slams. Der langjährige Slam-Master Hasler weiss: «Der Wettbewerb ist Show fürs Publikum. Ein echter Wettbewerb mit Preisgeldern ist aber tabu.» So wahrt sich die Szene den Zusammenhalt. Die Slamily arbeitet nicht gegeneinander – und trinkt den Sieger-Whisky gemeinsam.
Dieses angenehme Miteinander wird immer auf die Probe gestellt. Zum nächsten Mal im November: Dann finden in Zürich die grossen deutschsprachigen Meisterschaften statt – das Einzelfinale am 10. November im Hallenstadion. Matthias Burki kann das als einer der Väter kaum glauben: «Jahrelang hiess es: ‹Das ist doch ein Hype, das hört schnell wieder auf.› Nun steigt das Slamfinale vor 5000 Zuschauern!» Sein Baby, der Schweizer Poetry Slam, ist mit 20 Jahren längst aus den Kinderschuhen herausgewachsen.