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200 Jahre Fjodor Dostojewskij: Dichter, Philosoph und Nationalist
Aus Literaturfenster vom 08.11.2021. Bild: IMAGO / Photo12
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200 Jahre Fjodor Dostojewskij An Dostojewskij führt kein Weg vorbei

Alle lieben Dostojewskij – zumindest in St. Petersburg, wo der Schriftsteller als Kultfigur verehrt wird.

«Dostojewskij oder Tolstoj?» Diese Frage fällt früher oder später fast immer, wenn man sich mit Russinnen und Russen unterhält. Zumindest, wenn es sich dabei um halbwegs literaturaffine Zeitgenossen handelt.

Oft steht sie am Anfang langer Diskussionen über die Genialität der beiden Grossmeister der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Über Lew Tolstoi, der mit Monumentalwerken wie «Krieg und Frieden» und «Anna Karenina» bekannt wurde. Und über Fjodor Dostojewskij, den Schöpfer von nicht minder gigantischen Werken wie «Verbrechen und Strafe» oder «Die Brüder Karamasow».

Klarer Fall für Dostojewskij

In St. Petersburg könnte man auf die häufigste Antwort auf diese Frage bei Wettbüros ohne Risiko grössere Beträge setzen. Sie lautet mit drückendem Mehr fast immer «Dostojewskij».

Das ist auch nicht erstaunlich. Der am 11. November 1821 in Moskau geborene Autor verbrachte schliesslich fast zwanzig Jahre in der Stadt. Damals war St. Petersburg noch Hauptstadt des russischen Zarenreichs. Sie bildet die Kulisse vieler seiner Erzählungen, Novellen und Romane.

Darin erzählt er von Menschen in existenziellen Notlagen und schildert das Elend in verkommenen Hinterhöfen. Schreibt über Ausgestossene in erbärmlichen Kellerlöchern und an Tuberkulose erkrankte Gestalten am Rand der Gesellschaft.

All diese Figuren leuchtet Dostojewskij literarisch meisterhaft und bis in den hintersten Winkel psychologisch aus. Dabei wirft er gleichzeitig existenzielle Grundfragen auf, die noch immer aktuell sind.

Der Stolz der Stadt

Entsprechend stolz sind die Petersburgerinnen und Petersburger noch heute auf ihren weltberühmten Bürger. Die Einrichtungen, die in der Stadt an den Dichtertitan erinnern, sind zahllos, von Dostojewskij-Denkmälern über Gedenktafeln und ein Museum bis hin zu einer Metrostation.

Im Jubiläumsjahr ist ein Entrinnen vor Dostojewskijs Omnipräsenz gänzlich undenkbar geworden. Bühnen führen Theaterumsetzungen seiner Romane auf. Sonderausstellungen und internationale wissenschaftliche Kongresse nehmen sich des Dichters an. Die Medien berichten auf allen Kanälen.

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Aus dem Archiv: Dostojewski-Übersetzerin Swetlana Geier
Aus 10 vor 10 vom 02.04.1996.
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Besonders gefragt seien derzeit literarischen Dostojewskij-Führungen, erzählt die Petersburger Literaturwissenschafterin Juliana Kaminskaja. Sie organisiert in ihrer Stadt regelmässig Touren an die Orte, an denen der Dichter gelebt hat.

Wenige waren das keineswegs: Der von ständigen Geldsorgen und Spielsucht Geplagte musste seine Bleibe immer wieder wechseln, weil er die Miete nicht bezahlen konnte.

Ein Platz wie zu Dostojewskijs Zeiten

Die meisten Wohnungen des Dichters befinden sich in der Nähe der «Sennaja Ploschad», dem «Heuplatz» mit seinen historischen Gebäuden und vielen kleinen Geschäften.

«Der Platz erinnert noch immer stark an Dostojewskijs Zeit», so Kaminskaja. Noch heute ziehe er auch «zwiespältige Personen an, die den Eindruck machen, als ob sie direkt den Werken Dostojewskijs entsprungen wären».

Der Mörder im Treppenhaus

Das Highlight jeder Dostojewskij-Tour ist der Gang zum Haus, das durch «Verbrechen und Strafe» berühmt wurde. Der Mörder Raskolnikow massakriert darin eine Pfandleiherin mit einem Beil. Danach jagt er – von jähem Entsetzen über seine Bluttat ergriffen – das Treppenhaus hinunter.

Die Bewohner des Hauses störten sich gelegentlich daran, dass regelmässig Gruppen von Dostojewskij-Fans das legendäre Treppenhaus erkundeten, erzählt die Literaturwissenschafterin mit einem Schmunzeln. «Wir standen auch schon vor verschlossenen Türen.»

Da hatte offenbar jemand genug vom Kult um Dostojewskij. In St. Petersburg ist dies zweifelsohne die Ausnahme.

Buchhinweis

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Fjodor M. Dostojewskij: Werkausgabe, übersetzt von Swetlana Geier, S. Fischer 2021.

SRF 2 Kultur, Literaturfenster, 08.11.2021, 09:03 Uhr.

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