Der Titelheld von Despentes' Roman «Das Leben des Vernon Subutex», war in den 1980er-Jahren Verkäufer im angesagtesten Plattenladen. So lernte er die ganze Punk-, Rock- und Heavy-Metal-Szene kennen. Heute ist er verarmt, aus seiner Wohnung geflogen und auf der Suche nach einer Bleibe.
Subutex ist kein Grübler. Er nimmt seinen gesellschaftlichen Abstieg relativ cool und hält sich als Kompensation an die Frauen, zuletzt an eine wunderschöne brasilianische Transsexuelle.
Couchsurfen bei alten Bekannten
Vernon Subutex' Beziehungen funktionieren als Motor des Romans. Da er Unterschlupf braucht, sucht er seine alten Bekannten auf, einen nach dem anderen, eine nach der anderen.
Und wir lernen sie alle kennen, diese Übriggebliebenen oder Überlebenden der Punk-Generation. Despentes erzählt Geschichten, die sie charakterisieren und lässt die Figuren in langen Tiraden zu Wort kommen, einen nach dem anderen und eine nach der anderen.
Traurige Gespenster
Ihre Wege in die Gegenwart sind verschieden. Emilie, zum Beispiel, die ehemalige Bassistin einer Punk-Band, ist eine fette Staatsbeamtin geworden, bezahlt ihre Anpassung aber mit Aggressionen und Depressionen.
Xavier Fardin, Drehbuchautor, ist nun ein frustrierter, aber treuer Ehemann, der auf Schwule, Frauen und Juden schimpft. Laurent Dopalet, Filmproduzent, sagt von seinem Berufsmilieu: «Heute dominieren egozentrische Psychopathen an der Grenze zur Demenz.» Er ist selbst so einer.
Dämonen und Liebe
Deborah hat die Kurve nur mit einer Geschlechtsumwandlung gekriegt. Sie ist heute Daniel. Patrice, der tätowierte Hüne, ist Marxist geblieben, hat die Hells Angels aber aufgegeben. Er ist gewalttätig geworden und verprügelt seine Frauen.
Die Autorin Despentes beschreibt eindrücklich, wie der Dämon der Gewalt immer wieder über ihn kommt, und stellt die Frage: Was wäre dieser Patrice ohne seine Wut? Die Antwort, die die Autorin nicht gibt, lautet: nur ein armes Würstchen.
Die junge Aicha glaubt, ihrem linksliberalen Vater gerade dadurch die Treue zu halten und Liebe erweisen zu können, dass sie zum islamischen Glauben übertritt.
Mileustudie des moralischen Verfalls
Despentes Figuren müssen in einem Frankreich leben, das den gesellschaftskritischen und humanistischen Nachkriegskonsens aufgegeben hat zugunsten einer Ideologie, die Geld, Profit und Erfolg vergöttert. Werte wie Moral oder Solidarität sind out.
Die Reichen und Erfolgreichen halten den Kampf aller gegen alle für naturgegeben. In diesem Daseinskampf ist das Netz eine wichtige Waffe.
Ethik im postfaktischen Zeitalter
Eine Frau, die «Hyäne» genannt wird, verbreitet von Berufs wegen und gegen Bezahlung gute oder schlechte Nachrichten im Netz. Sie setzt Denunziationen, Trends und Fake-News in die Welt.
«Kann sie eine Kundin annehmen, auf der sie gerade für eine andere Kundin herumtrampelt? Natürlich kann sie das. Wir sind im dritten Jahrtausend, alles ist erlaubt.»
Demaskierung der Grande Nation
Depentes Roman beschreibt das heutige Frankreich jenseits der geschönten Oberfläche. Er lebt von den reichen sozialen Erfahrungen der Autorin. Sie kennt die verschiedensten Milieus.
Die Reichen erscheinen privat, wenn sie sich gehen lassen und sagen, was sie denken. Die Ausgeschlossenen und Deklassierten kommen zu Wort, als Opfer und als Täter.
Und über allem liegt die Melancholie des Verlusts der humanitären Bemühungen. Reichtum, Macht und Gewalt sind schamlos geworden.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 28.9.17, 9.02 Uhr