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Apokalyptischer Roman Karl Ove Knausgård wittert den Weltuntergang

Zum Star wurde er mit einer Nabelschau in sechs Bänden. In «Der Morgenstern» blickt Karl Ove Knausgård hoch zum Himmel.

Ein trüber Vormittag im Südosten Londons. «Wenn der Himmel klar wäre, könnten wir jetzt sicher den Morgenstern sehen», sagt Karl Ove Knausgård, bevor wir sein Lieblingscafé in Hither Green betreten. In diesem Viertel lebt der norwegische Autor mit seiner Patchwork-Familie.

Sein neuer Roman «Der Morgenstern» spielt an zwei Sommertagen in Norwegen. Neun Ich-Erzähler beobachten ein seltsames Licht am Firmament. Kündigt es etwas Unheilvolles an oder doch eine frohe Botschaft?

«In der Bibel kann der Morgenstern für Jesus stehen, aber auch für den Teufel», erläutert der Autor im Café. «Ich mag es, wenn alles auf den Kopf gestellt wird.»

Massaker mit Marienkäfern

Das Motto des Romans ist eine Bibelstelle aus dem Buch der Offenbarung, in dem den Menschen eine monatelange Heuschreckenplage prophezeit wird. Auch im Roman treten Tiere, etwa Krebse, in Massen auf, wie in einem Horrorfilm.

«Einmal bin ich an einem Sommertag in Schweden Zeuge von abertausenden Marienkäfern geworden», erinnert sich Knausgård. Marienkäfer seien eigentlich schön. Aber sie seien selbst in seinen Haaren gewesen, beim Gehen hätten die Tiere unter den Sohlen geknirscht. «Das hat sich angefühlt, als würde der Weltuntergang über mich hereinbrechen.»

Auch im Roman ist es, als wäre die Welt aus den Fugen geraten. Tote scheinen nicht wirklich tot zu sein. So beobachtet etwa eine OP-Schwester, wie sich ein tot geglaubter Mann noch regt, als ihm Organe entnommen werden.

Augenblicke für die Ewigkeit

Karl Ove Knausgård bricht in seinem neuen Roman mit unseren rationalen Erwartungen und entpuppt sich als Romantiker. Das Irrationale, das Unheimliche, die Nacht – der norwegische Autor dekliniert gängige Motive der Romantik durch.

Auch die Verbundenheit des Menschen mit der Natur. Im Roman entsteht etwa eine innige Beziehung zwischen Tier und Mensch beim langen Blick in die Augen von Fuchs und Hirsch.

Einmal glaubt eine Figur, ein Mischwesen aus Mensch und Tier zu beobachten, eine von mehreren Anspielungen auf den Hirtengott Pan. «Wir haben den Blick für so etwas verloren», sagt Karl Ove Knausgård. «Aber vor 300 Jahren konnten Menschen sogar noch Engel und Teufel sehen.»

Auftakt zu einer Reihe

«Der Morgenstern» ist aber auch ein Roman über die ganz konkreten Alltagsprobleme der sehr unterschiedlichen Ich-Erzähler. Da ist die schamhafte Supermarktkassiererin, die ihr Psychologie-Studium abgebrochen hat.

Da ist der Literaturprofessor, der, wie einst der Autor selbst, an seiner bipolaren Frau verzweifelt. Da ist sein Nachbar, der durch die Lektüre des Philosophen Kierkegaard tief gläubig wird und unbekümmert leben will wie ein Vogel.

Vieles in den Erzählsträngen der nur locker miteinander verknüpften Figuren bleibt offen, auch die Frage, ob da wirklich grosses Unheil aufzieht. Denn «Der Morgenstern» ist nur der Auftaktband zu einer mindestens fünfbändigen Reihe.

Die Grösse liegt im Kleinen

Karl Ove Knausgård ist ein zugleich treffend realistischer und romantisch entrückter Roman geglückt. Wie schon in seinem autobiographischen Projekt «Min Kamp» entwickelt er aus dem Alltag seiner Figuren die grossen existentiellen Fragen: Was ist der Sinn unseres Daseins? Existiert Gott? Und gibt es ein Leben nach dem Tod?

Die meisten Romanfiguren sehnen sich nach einem Neuanfang. Die Sehnsucht – noch so ein Motiv der Romantik. Bleibt die Frage, ob auch Karl Ove Knausgård die Sehnsucht verspürt, für etwas ganz Neues dem Alltag den Rücken zu kehren?

Das Ende der Einfachheit

«Vor vielen Jahren habe ich das getan. Da habe ich mich nach Einfachheit gesehnt», antwortet er, während er aus dem Fenster des Cafés in Hither Green blickt. Heute denke er, das Leben mache gerade aus, dass man es in den Griff bekommen müsse.

«Rückschläge gehören dazu», sagt Knausgård. «Anstatt zu versuchen, dem Alltag zu entkommen, schreibe ich jetzt darüber, wie man ihn schätzen lernt und in ihm Grösse entdeckt.»

Buchhinweis

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Karl Ove Knausgård: Der Morgenstern. Roman. Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand, 2022.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 11.4.2021, 8:06 Uhr

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