Zum Inhalt springen
Eine braun-schwarze Zeichnung: Ein Mädchen hält die Hand ihrer Mutter. In der Sprechblase steht "Hallo!"."
Legende: Ausradiert, erneut gemalt: Goblets autobiografische Graphic Novel erzählt auch mit der Stiftführung. Dominique Goblet

Autobiografische Graphic Novel Eine düstere Kindheit, skizziert mit dunkler Farbe

In «So tun als ob heisst lügen» umkreist Dominique Goblet die Abgründe ihrer Kindheit – und findet dafür eindringliche Bilder.

Die Geschichte beginnt mit Dominique Goblets Besuch bei ihrem Vater. Sie hat ihn seit vier Jahren nicht mehr gesehen und will ihm ihre Tochter Nikita vorstellen. Der Vater, ein angeblich trockener Alkoholiker, der Frau und Kind sitzenliess, entpuppt sich als weinerlich-aggressives Elend. Er inszeniert sich als Opfer, überhäuft seine Tochter mit Vorwürfen und beachtet seine Enkelin nicht.

Ein Comic-Ausschnitt mit sieben Bildern.
Legende: Verwischt und schmutzig: Auf den Bilden sind Spuren von Überarbeitung sichtbar. Dominique Goblet

Diese verstörende Begegnung löst in Dominique die Auseinandersetzung mit ihrem Kind aus. Auch das Verhältnis zu ihrer Mutter stellt sich als problematisch heraus.

Die mental labile Mutter überschüttete ihre Tochter mit erstickender Zärtlichkeit, um sie im nächsten Augenblick grausam zu misshandeln – so sperrte sie die kleine Dominique grundlos im dunklen Estrich ein.

Kompromisslose Grafik

Während Dominique sich den Abgründen ihrer Kindheit stellt, verliebt sie sich. Mit dem neuen Mann an ihrer Seite werde alles wunderbar, denkt sie – bis sie merkt, dass er sie ständig mit seiner Ex betrügt.

Die 1967 geborene Dominique Goblet gilt seit zwanzig Jahren als eine der bedeutendsten Comic-Künstlerinnen. Grafisch und inhaltlich kompromisslos und aus einer resolut weiblichen Haltung heraus umkreist sie in ihren Comics, Zeichnungen und Gemälden persönliche Themen.

Mehr Graphic Novels

Box aufklappen Box zuklappen

Die französische Ausgabe von «So tun als ob heisst lügen» erschien 2007 und wurde als Meilenstein der Comic-Autobiographie gefeiert. Nun erscheint der Band auch auf Deutsch.

Zerrissene, suchende Autorin

Vater und Mutter, das Aufwachsen, der neue Partner, die eigene Tochter: Das sind viele Geschichten für knapp 150 Seiten. Man hat den Eindruck, dass Goblet zu viel will und den Fokus verliert.

Dann aber begreift man, dass sie in «So tun als ob heisst lügen» das umkreist, was sie als Kind nie erfahren hat und auch als Erwachsene nicht findet: Emotionale Stabilität, bedingungslose Zuneigung, Vertrauen und Sicherheit. Gleichzeitig stellt sie sich auch die Frage, ob sie in der Lage ist, ihrer Tochter Nikita diese emotionale Sicherheit zu geben.

Ein Comic-Ausschnitt mit vier Bildern.
Legende: Die Zeichnungen von Goblet sind brüchig, offen und vielschichtig, verwischt und schmutzig. Dominique Goblet

Instrumente für die skizzierte Vergangenheit

Auf diesem existenziellen Treibsand tastet sich Goblet vorwärts und findet dazu die richtigen Bilder. Bleistift und Kugelschreiber verleihen ihren Zeichnungen die Anmutung von Skizzen. Sie sind brüchig, offen und vielschichtig, verwischt und schmutzig, oft sind sogar die Spuren von Überarbeitung und Korrekturen sichtbar.

Kinderzeichnungen stehen neben expressionistischen Alpträumen, raue Collagen neben Kompositionen von unerhörter Dichte. Metaphern und Abstraktionen erweitern die Realität, und auch die Schrift wird zum Bild und verdeutlicht das Innenleben der Sprechenden.

Vergangenheit kritzeln, Zukunft skizzieren

Die Arbeit an «So tun als ob heisst lügen» war kein linearer Prozess. Insgesamt arbeitet Dominique Goblet zwölf Jahre an ihrer autobiographischen Geschichte.

Buchhinweis

Box aufklappen Box zuklappen

Dominique Goblet: «so tun als ob heißt lügen», 2017, Avant-Verlag.

Immer wieder verwarf sie ganze Kapitel, mehrmals begann sie neu, probierte andere Ansätze aus, bis sie die richtige Form für diese Auseinandersetzung gefunden hatte. Das ist ihr gelungen: «So tun als ob heisst lügen» ist eine Geschichte von tiefer Intensität und berührender Intimität.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktuell, 24. April 2017, 17.22 Uhr

Meistgelesene Artikel