Im kurzen Zeitfenster zwischen dem Sturz Gaddafis und dem neuerlichen Bürgerkrieg flog der libysche Autor Hisham Matar mit seiner Frau und seiner Mutter in sein Heimatland, zum ersten Mal seit über 30 Jahren. Er wollte endlich Gewissheit über das Los seines Vaters, eines prominenten Regimekritikers. Er bekam sie nicht.
Zurück in London, wo er seit langem lebt, konnte Matar nicht mehr schreiben. «Mehrere Monate lang schrieb ich nichts, nicht einmal einen Brief oder eine Mail. Ich dachte, mein Leben als Autor sei vorbei.» Dann habe er einen Freund im Piemont besucht und die Notizbücher mitgenommen. Er versuchte, darin zu lesen, als gehörten sie einem Fremden.
Sätze, in denen Schatten wohnen
«Ich dachte: Was, wenn ich die ersten beiden Sätze nehme und überlege, welches die nächsten beiden sein könnten: ‹Früher Morgen, März 2012. In einer Lounge des Kairoer Flughafens sassen meine Mutter, meine Frau Diana und ich in einer auf den gefliesten Boden geschraubten Sitzreihe.› Dabei ging es mir weder darum, etwas zu erfinden noch reine Fakten aufzulisten. Ich wollte Sätze, in denen Schatten wohnen.»
Hisham Matar fand die Sätze, in denen Schatten wohnen. Sein autobiografischer Bericht «Die Rückkehr. Auf der Suche nach meinem verlorenen Vater» wurde in England 2016 zum Buch der Saison und kürzlich mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.
Die Schrecken der Diktatur
Mitte der 1980er-Jahre baute Hisham Matars Vater aus dem Kairoer Exil eine Untergrundarmee gegen den libyschen Herrscher Muammar al-Gaddafi auf. Kurz bevor diese in Aktion treten wollte, wurde Jaballa Matar 1990 mit Billigung Ägyptens nach Libyen verschleppt. Seither gilt er als verschollen. Vermutlich wurde er 1996 beim Massaker im berüchtigten Abu-Salim-Gefängnis in Tripolis ermordet.
Die Schrecken der Diktatur, politischer Widerstand, Exil und das Verbrechen, Menschen verschwinden zu lassen, sind Hisham Matars Lebensthemen. Sie prägen auch seine vielgepriesenen Romane «Im Land der Männer» und « Geschichte eines Verschwindens ».
Folter der Angehörigen
«Trauer ist keine Detektivgeschichte», heisst es in Matars neuem Buch. Trauer löst sich nicht auf. Sie wird nicht weniger, nur weil der Vater seit über 20 Jahren verschwunden ist und es noch nicht einmal mehr die Hoffnung gibt, seine sterblichen Überreste zu finden. «Mein Vater ist tot, und zugleich lebt er noch. Ich habe keine Grammatik für ihn, er ist in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.»
Laut einer UN-Konvention ist das Verschwindenlassen von Menschen Folter, auch Folter der Angehörigen. In Libyen wurde diese Folter während der Gaddafi-Diktatur in grossem Stil praktiziert. Sie destabilisiere die libysche Gesellschaft bis heute, sagt Hisham Matar.
Seltene Präzision und Unmittelbarkeit
«Die Rückkehr. Auf der Suche nach meinem verlorenen Vater» ist erstaunlicherweise kein trauriges Buch. Hisham Matar lebt in der Literatur, der Kunst, der Musik, der Architektur. Was er davon weiss, nutzt er für eine ausgeklügelte Erzählstruktur, die Assoziationen in alle Richtungen eröffnet. Und er beglückt mit einer seltenen Präzision und Unmittelbarkeit in der Darstellung komplexer Zusammenhänge und flüchtiger Gefühle.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, 52 beste Bücher, 21.05.2017, 11:03 Uhr