Oskar Negt war zehn, als der Zweite Weltkrieg in seine dramatische letzte Phase ging. Im Winter 1944 schickten die Eltern ihren Jüngsten zusammen mit den 16- und 17-jährigen Schwestern voraus auf die Flucht aus Ostpreussen in Richtung Berlin.
Die Kinder sollten in Sicherheit sein. Doch als sie in Königsberg ankamen, war die Stadt bereits von der Roten Armee eingekesselt worden. Es gab keinen Weg mehr hinaus. Sechs Wochen irrten sie durch eine Totenstadt.
Zehn Jahre Ungewissheit
Nun blickt der heute 82-jährige Negt nach einem politisch und wissenschaftlich bewegten Leben zurück auf seine jungen Jahre.
Als es den Jugendlichen endlich gelang, ihre Flucht auf einem Schiff nach Dänemark fortzusetzen, lagen noch ungewisse Jahre in dänischer Kriegsgefangenschaft und später in der sowjetisch besetzten Zone vor ihnen. Ganze zehn Jahre dauerte für Oskar Negt der ungewisse Status des Flüchtlings- und Heimatlosen.
Heimatlosigkeit verarbeiten
Im resümierenden Erzählen seiner Lebensgeschichte stellt Negt die zentrale Frage, von welchen Bedingungen es abhängt, ob ein über lange Zeit desorientierter, entwurzelter Mensch irgendwann wieder Zugehörigkeit zu einem grösseren Ganzen empfinden und sinnstiftend tätig werden kann.
«Wer die Grunderfahrung von Flucht und Vertreibung einmal gemacht hat, der arbeitet ein Leben lang an dem Problem der Ich-Findung und der Orientierungsunsicherheit», schreibt Negt.
Dankbarkeit statt Wut
Für ihn selbst waren es die älteren Schwestern, durch die er in dieser Zeit die «verlässliche Nähe von Menschen, denen man unbegrenztes Vertrauen entgegenbringt» erleben konnte.
Auch habe das kleine Land Dänemark damals den 250'000 deutschen Flüchtlingen – sogar hinter Stacheldraht – eine zivilisierte Behandlung angedeihen lassen. Jene zweieinhalb Jahre in Kriegsgefangenschaft, bevor die Geschwister in Deutschland die Eltern wiederfanden, hat Negt nicht als schlimme Zeit in Erinnerung. «Die Tonlage meiner Autobiographie ist Dankbarkeit.»
Geforscht und geholfen
Neben Dankbarkeit ist da auch Stolz, aktiv für das Gemeinwesen tätig gewesen zu sein. Als Sozialphilosoph hat Negt nicht nur geforscht, sondern in zentralen politischen Fragen der jungen Bundesrepublik visionär mitgewirkt: Was kann die Rolle von Gewerkschaften sein? Wie bildet man wertegebundene Menschen aus?
Auch in diesem Buch, das er eine «autobiographische Spurensuche» nennt, kommentiert er die politische Aktualität.
In der derzeitigen Flüchtlingssituation, so Negt, müsse alles getan werden, um geflüchteten Menschen schnell wieder berufliche und gesellschaftliche Handlungsspielräume zu geben.
Beiträge zum Thema
Zeitalter der Flüchtlinge
«Den Menschen ein Stück Macht über die eigenen Verhältnisse zurückzugeben» sei ein wesentliches Aufbauelement einer Gesellschaft.
Im «Zeitalter der Flüchtlinge» messe sich der innere Frieden einer Gesellschaft daran, wie weit sie sich – auch selbstkritisch – auf die Lebenswelt der anderen, der Fremden einlasse. «Gastrecht» müsse ins Zentrum einer zivilisierten Gesellschaft gehören.
Sendung: Radio SRF 2, Kultur aktuell, 30.12.2016, 16:50 Uhr