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Christian Kracht sitzend vor einem Mikrofon.
Legende: Der Schweizer Autor Christian Kracht hat mit der Schilderung seiner Kindheitserinnerung für Aufsehen gesorgt: Keystone

Autor spricht über Missbrauch «Christian Krachts Bekenntnis war ein Schockmoment»

Christian Kracht hat bisher ungern über sich und seine Literatur geredet. Der Schweizer Autor gilt als schüchtern.

Doch nun schockierte er mit einer Enthüllung: Er sei als 11-Jähriger von einem Priester sexuell missbraucht worden. Dies erzählte er zu Beginn einer Poetik-Vorlesung in Frankfurt. Literaturwissenschaftler Philipp Theisohn kennt Christian Kracht persönlich und hat über sein Werk geforscht.

Philipp Theisohn

Literaturwissenschaftler

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Philipp Theisohn, geboren 1974, ist Literaturwissenschaftler an der Universität Zürich. Er studierte Neuere Deutsche Literatur und Philosophie in Tübingen und Zürich und promovierte in Jerusalem. Theisohn kennt Christian Kracht persönlich und hat über sein Werk geforscht.

SRF: Christian Kracht tritt sehr selten auf und wenn, gibt er kaum etwas von sich preis – jetzt plötzlich dieses intime Bekenntnis. Wie erklären Sie sich das?

Philipp Theisohn: Es ist durchaus überraschend. Mich überrascht aber weniger der Inhalt, sondern vielmehr die Platzierung dieser Erinnerung im Rahmen dieser Poetik-Vorlesung. Denn das Ziel der Poetik-Vorlesung ist im Grunde die Ursprünge des Werkes aufzuzeigen – und dann überrascht eine solche Geschichte natürlich schon.

Ist es ein Versuch, sich und sein Werk zu erklären?

Mit dieser Annahme wäre ich vorsichtig. In der Berichterstattung geht unter, dass er mit dem Bekenntnis nicht die ganze Vorlesung ausgefüllt hat. Das war nur ein Moment, aber sicherlich ein Schockmoment.

Es war der Anfang der Vorlesung. Kracht ist damit eingestiegen.

Genau. Aber er selbst hat es nicht als Skandal präsentiert. Er hat es im Grunde als einen Baustein in der Genese seiner Existenz als Schriftsteller präsentiert.

Er erzählt von einer Erinnerung, von der er lange geglaubt hat, es wäre eine falsche Erinnerung oder bloss eine Erzählung, die ihm jetzt als Wahrheit erscheint. Kracht ist jemand, der sehr gut weiss, wie man auch etwas so Furchtbares erzählt. Doch selbst da schimmert durch, dass er sich durch die Worte vor diesen Ereignissen schützt.

Kracht gilt unter anderem wegen seiner polarisierenden Auftritte als umstrittene Figur in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Gehört dieser neueste Paukenschlag zu einer Art Inszenierung seiner selbst?

Das darf man ihm in dem Fall nicht unterstellen. Davor muss man ein bisschen zurückscheuen. Es gibt solche Kommentare, ich habe einige im Spiegel gelesen, etwa ‹man glaubt ihm kein Wort›. Das geht natürlich nicht.

Wenn wir von Inszenierung sprechen, dann meinen wir, etwas ist gar nicht so, wie es scheint. Das ist etwas, was wir hier auf keinen Fall sagen können.

Was wir allerdings sagen können, ist, dass er das Ganze schriftstellerisch, poetisch verarbeitet. Das kann auch eine Wahrheit sein, die in einer bestimmten Weise präsentiert werden muss, weil die sonst gar nicht präsentiert werden kann.

Inwiefern passt der Auftritt bei der Poetik-Vorlesung von Christian Kracht zur aktuellen MeToo-Debatte?

Es ist durchaus eine Zeit, in der so etwas anschlussfähig ist, an sehr populäre Diskurse. Kracht ist Feminist, insofern kennt er die Debatte sehr gut. Er lebt in den USA, wo sie auch viel präsenter ist.

Es wäre zwar durchaus anschlussfähig, aber – und das muss ich sagen – die Art, wie er diese Erinnerung präsentiert, ist eine andere, als Aussagen, die in eine Twitter-Zeile gepackt werden. Sie hat auch eine ganz andere Stimmlage, weil es eine sehr sachliche und in ihrer Konstruktion reflektierte Erinnerung ist.

Seine Texte waren immer weniger verletzend als verletzlich.

Was wir bei MeToo nicht finden, sind Äusserungen wie: «Ich weiss nicht, ob es so war. Mir erscheint es jetzt, als ob es so war. Und daraus erklärt sich mir wieder etwas Bestimmtes.» Das ist bei Kracht der Fall.

Dass wir einfach eine Erinnerung haben, von der gesagt wird, «ich hab die ganze Zeit geglaubt, es sei einfach etwas, was mir im Kopf ist, und mir wurde immer gesagt, das war so nicht. Und jetzt, aus den Berichten anderer, ziehe ich den Schluss, dass es wahrscheinlich doch genau so war.»

In einigen Berichten hat man gelesen, dass die Leute berührt waren von diesem Bekenntnis. Glauben Sie, dass es einen Einfluss haben wird auf die Wahrnehmung seiner Person und seines Werkes?

Das wäre eine späte Einsicht. Krachts Werk verlangt vom Leser sehr viel Sorgfalt und sehr viel Sensibilität. Seine Person sowie seine Texte waren immer weniger verletzend als verletzlich.

Wenn dieses Ereignis jetzt dazu führt, dass die Leute diese Einsicht bekommen, dann hat diese Erinnerung ihren Platz zurecht in dieser Vorlesung gehabt, weil sie natürlich ein Bewusstsein weckt für Literatur, vor allem für seine Literatur.

Im Übrigen wird es noch zwei weitere Vorlesungen geben, welche den Blick auf dieses Ereignis nochmals verändern könnten.

Das Gespräch führte Esther Schneider.

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