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Fremd: Gabriele Tergit und andere Autorinnen im britischen Exil
Aus Künste im Gespräch vom 25.08.2022. Bild: IMAGO / UIG
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Autorin Gabriele Tergit Sie wurde verjagt und verkannt – und gab doch nie auf

Furchtlos konfrontierte sie die Nazis: Gabriele Tergits Romane erzählen vom Aufstieg des Antisemitismus in Deutschland von der Kaiserzeit bis ins Exil.

«Wenn der SA-Sturm einen Spaziergang macht, dann liegen nachher Menschen mit eingeschlagenem Schädel auf dem Pflaster», schrieb die jüdische, Berliner Journalistin Gabriele Tergit noch 1932. Hatte sie keine Angst?

1931 war Tergit mit ihrem Roman «Käsebier erobert den Kurfürstendamm» auch als Romanautorin berühmt geworden. In jenem minimalistischen, ironisch-sarkastischen Stil porträtierte sie den Presse- und Kulturbetrieb im Berlin der Weimarer Republik.

Altes Schwarzweissfoto einer jungen, lächelnden Frau.
Legende: Die 32-jährige Gabriele Tergit: Die Journalistin stand damals vor ihrem Durchbruch als Schriftstellerin. JENS BRÜNING / SCHÖFFLING & CO

Früh alarmiert vom Aufstieg der Nazis, berichtete sie als Gerichtsreporterin über diverse Prozesse gewalttätiger Nazis, Propagandaminister Goebbels kommentierte dies mit der bedrohlichen Ansage: «Nun kennen wir also auch diese miese Jüdin.» Das sei ihr so gleichgültig wie nur irgendetwas, sagte Tergit dazu.

Ruhelose Jahre im Exil

Sie wollte «der Historie zusehen» und keinesfalls das Land verlassen, sagte Tergit. Dabei war sie nicht nur als kritische Autorin, sondern vor allem als Jüdin gefährdet. Dann überschlugen sich die Ereignisse: Sie wurde gewarnt, und konnte im März 1933 in letzter Minute über die Grenze in die Tschechoslowakei flüchten.

Es folgten ruhelose Jahre: zunächst Prag, dann Palästina. Tergit empfand es aber als Ding der Unmöglichkeit, sich dort einzuleben. 1938 gelang es ihr, mit Mann und Sohn in England einzureisen.

Der deutschen Sprache treu

Anders als in den Niederlanden oder Schweden gab es in England keinen Exilverlag. Obwohl Tergit, wo immer möglich, journalistisch aktiv war, konnte sie sich als Schriftstellerin den Wechsel zur englischen Sprache nicht vorstellen: «Ich bin berlinerisch in der Wolle gefärbt».

Buchinweise

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  • Gabriele Tergit: «Käsebier erobert den Kurfürstendamm». Schöffling & Co., 2016.
  • «Effingers». Schöffling & Co., 2019.
  • «So war's eben». Schöffling & Co., 2021.

Fieberhaft arbeitete sie an ihrem Roman «Effingers». Am Beispiel einer jüdisch-grossbürgerlichen Familie in Berlin erzählt Tergit die dramatische Zuspitzung der gesellschaftlichen Spannungen nach dem Ende der Kaiserzeit und dem verlorenem Krieg, den Aufstieg des Antisemitismus.

Spät erkanntes Meisterwerk

Heute gilt «Effingers» als Meisterwerk literarischer und zugleich historisch hochpräziser Darstellung der dramatischen Geschichte. Nach dem Krieg aber wollte niemand mehr von Krieg, Exil und Nazizeit hören. Das Buch wurde 1951 nur gekürzt publiziert. Es dauerte Jahrzehnte, bis Tergit in ihrer literarischen Bedeutung erkannt wurde.

Deutschsprachige Schriftstellerinnen im britischen Exil

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Die Mehrzahl von ihnen war jüdisch. Viele kamen aus Wien, andere aus Berlin, Frankfurt, München. Sie traten im Kabarett auf wie etwa Ruth Feiner, schrieben Gedichte und Geschichten wie Annette Eick, waren Romanautorinnen wie Veza Canetti oder Joe Lederer, sie kamen aus dem Journalismus wie Grete Fischer. Und sie alle waren spätestens ab 1933 akut bedroht.

In ihrem Buch «Deutschsprachige Schriftstellerinnen im britischen Exil» verfolgt die Autorin Doris Hermanns mehr als fünfzig Schicksale schreibender Frauen in Deutschland und Österreich während der Nazizeit, die sich irgendwann ins englische Exil retten konnten. Die unterschiedlichen Lebenswege sind im Buch thematisch gebündelt zu jenen grossen Stichworten, die das Leben im Exil bestimmten: Oft war die einzige Möglichkeit, einzureisen ein „domestic permit“, mit dem man sich als Hausmädchen durchschlagen konnte. Schreiben war schwierig ohne Exilverlag; einige wie Hilde Spiel erarbeiteten sich Englisch auch als Literatursprache, andere verstummten. In der einzigen deutschsprachigen Exilzeitung „Die Zeitung“ waren Frauen nur im Feuilleton zugelassen.

Hermanns zeichnet ein interessantes, vielstimmiges Bild des Lebens im Exil, das in vieler Hinsicht vor allem ein Überleben war, – und das die Karrierechancen gerade für schreibende Frauen nochmals dramatisch reduzierte. 

Doris Hermanns: «Und alles ist hier fremd. Deutschsprachige Schriftstellerinnen im britischen Exil.» AvivA Verlag, 2022.

Für viele andere deutschsprachige Autorinnen bedeuteten die Katastrophenjahre das Ende ihrer Karriere. Für Tergit dürfte ihre politische und geistige Mission ausschlaggebend gewesen sein, die Arbeit an ihren grossen Romanen ungeachtet der vielen Schwierigkeiten nicht aufzugeben.

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Rückkehr nur als Reisende

1956 schloss Tergit ihr drittes Opus Magnum ab. «So war's eben» ist wiederum ein über 60 Jahre spielender Exilroman, der erst im Rahmen der verdienstvollen Ausgabe des Schöffling-Verlags 2021 erstmals erschienen ist.    

Wie niemand anders blieb Gabriele Tergit auch hier dem Thema des jüdischen Schicksals und Leidens in Deutschland ebenso treu wie ihrem Verfahren, im Rahmen eines enorm breiten Gesellschaftspanoramas in pointierten, brillant verdichteten Dialogen die Historie selbst sich entfalten zu lassen.

Auf Reisen kehrte Tergit nach Deutschland zurück. Als Ort zum Leben, geschweige denn als Heimat, zog sie es nie mehr in Erwägung.

Radio SRF 2 Kultur, Künste im Gespräch, 25.08.2022, 09:05 Uhr.

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