Die Wechselkröte ist der «Lurch des Jahres 2022». Das wissen alle, die in diesem Jahr das Wettlesen um den Ingeborg-Bachmann-Preis verfolgt haben. Denn Juror Michael Wiederstein brachte sein zoologisches Fachwissen in die Jury-Diskussion ein, als es um den Text von Ana Marwan ging. Der Text trägt eben jenen Titel – «die Wechselkröte» .
Marwans Text hat die Jury in diesem Jahr am meisten überzeugt. Er handelt von einer isoliert auf dem Land lebenden Frau.
Ein Text in zarter, brüchiger Sprache mit ungewöhnlichen und sehr berührenden Bildern. Jurorin Vea Kaiser fühlte sich an Marlen Haushofers berühmtes Werk «Die Wand» erinnert. Mit «Die Wechselkröte» hat sich die Jury für einen Text von höchster Sprachkunst entschieden.
Eine Slowenin treibt die deutsche Sprache an
Ana Marwan wurde 1980 in Slowenien geboren. Sie hat Vergleichende Literaturwissenschaft sowie Romanistik studiert und lebt heute als Schriftstellerin in Österreich.
Deutsch ist nicht Marwans Muttersprache. In der Laudatio würdigte deshalb Juror Klaus Kastberger, der Ana Marwan für den Wettbewerb ausgewählt hatte: «Marwan führt die deutsche Sprache so vor sich her, als hätte sie nie in einer anderen Sprache gelebt. Sie treibt die Sprache vor sich her.»
Marwans Text war so einnehmend, dass er schnell als einer der Favoriten galt. Als potenzielle Gewinner waren bis zur Preisvergabe aber auch Alexandru Bulucz sowie Juan Guse gehandelt worden. Beide gingen nicht leer aus, sie erhielten je einen der Nebenpreise.
Ein starker Jahrgang
Diese 46. Ausgabe des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs war ein starker Jahrgang. Das Publikum durfte sich über viele ausgesprochen gute Texte freuen. Und auch über einen eher sketch-artigen Auftritt: Die 1982 in Bonn geborene Lyrikern Mara Genschel trug ihren Text in amerikanischem Akzent und mit aufgeklebtem Schnauzbart vor. Ihre Cowboy-Manier sorgte für Gelächter.
Anschliessend hatte die Jury Mühe, sich von der «Performance» nicht ablenken zu lassen und wieder auf den Text zu besinnen. Genschel meldete sich mitten in der Diskussion selbst zu Wort und behauptete, gar keine Performance geliefert zu haben: Der aufgeklebte Bart sei ihr «Style», sie habe sich «einfach schick» gemacht.
Damit sorgte sie abermals für Erheiterung. Für einen Preis langte diese Einlage dann allerdings nicht.
Usama Al Shahmani vertrat die Schweiz
Ebenfalls leer aus ging der einzige Schweizer Teilnehmer: Usama Al Shahmani. Sein Text «Porträt des Verschwindens» handelt vom Leben im Exil und der Frage, wie sich das, was man einst hatte, in eine andere Kultur und eine andere Sprache retten lässt.
In der Jury-Diskussion war Al Shahmanis Text neben seiner Sprache auch für seinen Witz und Humor gelobt worden. «Diesem Autor hätte ich noch länger zuhören können», sagte Klaus Kastberger. Bemängelt hingegen wurde von einigen die «konventionelle Erzählweise».
Verschiedene Herkunft, unterschiedliche Texte
Mit Usama Al Shahmani, Alexandru Bulucz, der Preisträgerin Ana Marwan und weiteren nahmen in diesem Jahr mehrere Lesende teil, die Migrationserfahrung haben. Das ist eine Gemeinsamkeit – während ihre Texte unterschiedlicher kaum hätten sein können.