Das Wichtigste in Kürze
- Laut «Die Zeit» ist Jane Gardam das «neue It-Girl der englischen Literatur» – mit fast 90 Jahren.
- Gardam begann vor 40 Jahren zu schreiben. Erst mit über 80 wurde sie berühmt und wird heute mit bekannten Autorinnen wie Alice Munro oder Katherine Mansfield verglichen.
- Die Figuren ihrer Geschichten stammen alle aus der oberen englischen Mittelschicht – kämpfen aber mit Problemen, wie sie Menschen überall auf der Welt kennen.
Die Schriftstellerin Jane Gardam trifft mit ihren Geschichten den Nerv der Zeit. Geschrieben hat sie diese bereits zwischen 1977 und 2007.
Sie drehen sich um zwei Fragen, die in der heutigen Selfie- und Selbstdarstellungskultur wichtiger sind denn je: Wie viel von sich zeigt man den Anderen? Und: Wie ehrlich ist man zu sich selbst?
Gefühle spüren ohne Worte
Um diese Fragen geht es zum Beispiel in der Geschichte mit dem Titel «Hetty, schlafend». Hetty, eine junge Frau, ist mit ihren beiden kleinen Kindern in den Ferien am Meer und trifft zufällig ihre einstige grosse Liebe Heneker wieder.
Sie lädt ihn ein zum Tee, während ihr Mann geschäftlich unterwegs ist – und ist hin- und hergerissen zwischen Verantwortungsbewusstsein und Versuchung. Hetty ist der Situation ausgeliefert: Ist sie ehrlich zu sich selber und lässt ihre Gefühle zu? Oder soll sie sich für die Distanz entscheiden?
Isabel Bogdan übersetzt Jane Gardams Werk ins Deutsche. In ihren Augen zeigt sich in der Darstellung dieser Hin- und Hergerissenheit Gardams Qualität.
«Hetty lädt Heneker zum Tee ein – beschäftigt sich dann aber dauernd, um ihm ja nicht zu nahezukommen. Durch die Beschreibung ihres Verhaltens stellt Jane Gardam klar, wie sehr Hetty mit sich ringt.»
Jane Gardam schreibe nicht über Gefühle, so Bogdan. Aber man kriege sie trotzdem mit.
Meisterin des Kippens
Und: In ihren Geschichten sehe es zuerst immer ganz anders aus, als es tatsächlich ist: «Irgendwann kippt diese Geschichte und es ist überhaupt nicht so, wie man zu wissen glaubte. Das hat sie wahnsinnig gut drauf: dieses langsame Kippen.»
Von diesen unerwarteten Wendungen in Schicksalen erzählt Jane Gardam ohne moralisierenden Zeigefinger und Pathos. Ihre Prosa ist sehr reduziert und präzise. Ein paar sprachliche Pinselstriche genügen, und man sieht die Protagonisten vor sich.
Mit amüsiertem Unterton
Etwa Rupert, aus der Geschichte «Ein unbekanntes Kind»: «der typische unverheiratete, alterslose englische Akademiker, reich, Griechenland-Liebhaber, geschlechtslos – alle Leidenschaft in echter Sorge um seine Freunde gebündelt.»
Diese Textstelle zeigt, wie liebevoll Jane Gardam mit ihren Figuren umgeht. Oft mit einem amüsierten Unterton, aber ohne sie blosszustellen oder auszulachen.
Die Oberschicht zerbröckelt
Ihre Figuren sind Männer und Frauen jeden Alters, mit Fragen und Problemen, wie sie viele Menschen überall auf der Welt kennen. Nur: Jane Gardams Figuren stammen alle aus der oberen englischen Mittelschicht, in der auch sie selbst lebt. Diesen Lebensstil zu porträtieren, gelingt ihr meisterhaft.
Sie bringt die Situation vieler alteingesessener Familien auf den Punkt – und thematisiert den Niedergang der britischen Oberschicht. Es gab einmal viel Geld, aber heute kämpfen die meisten, um ihren aufwendigen Lebensstil aufrecht zu erhalten.
Mit 80 eine Bestseller-Autorin
In ihrem nun auf Deutsch erschienenen Kurzgeschichtenband verknüpft Jane Gardam gekonnt englische Geschichte und Tradition mit persönlichen Schicksalen. Das gelingt ihr – wie auch schon in ihrer Roman-Trilogie über einen alten Richter und seine Frau.
Damit wurde Jane Gardam vor zwei Jahren im deutschsprachigen Raum überhaupt erst entdeckt. Mit über 80 Jahren stürmte sie gleich die Bestsellerlisten.
Jane Gardam gibt aktuell keine Interviews mehr. Aber 2015 erzählte sie bei einer Preisverleihung, wie verzweifelt sie sich als junge Mutter danach gesehnt habe, ein Buch zu schreiben. Und dass sie am Tag, als ihr jüngstes Kind eingeschult wurde, auf schnellstem Weg in ihr kleines Büro ging und schrieb. Bis es Zeit war, den Kleinen wieder abzuholen.
Schreiben als «Grundbedürfnis»
Das war vor über 40 Jahren. Heute wird Jane Gardam zu Recht mit bekannten Erzählerinnen wie Alice Munro oder Katherine Mansfield verglichen. 2009 wurde Jane Gardam sogar von der Königin von England in den Adelsstand erhoben.
«Schreiben», hat sie einmal gesagt, sei für sie «ein Grundbedürfnis.» Schon immer habe sie gerne Kurzgeschichten geschrieben, ohne sich zu überlegen, ob das der Mode entspräche.
Vor Kurzem ist das Genre regelrecht explodiert. Auch darum liegt Jane Gardam mit ihren Kurzgeschichten voll im Trend.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 23.11.17, 9:02 Uhr