Gefängnis sei weniger schlimm als eine Entführung, sagt sich die Geisel Christophe André, als ein weiterer Tag in Schneckentempo vergeht. Im Gefängnis wisse man wenigstens, warum man sitze – und vor allem wie lange.
Dass seine Geiselhaft 111 quälende Tage dauern würde, ahnte Christophe André nicht, als er im Juli 1997 entführt wurde. André, ein Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen im Kaukasus, fand sich bald darauf in einem nackten Zimmer wieder, mit Handschellen an einen Radiator gekettet.
Die Handschellen wurden nur zum Essen und für den täglichen Toilettenbesuch gelöst. Bewacht wurde er von einem gedrungenen, schnauzbärtigen Wärter, mit dem jede Verständigung unmöglich war.
16 Jahre, bis die Geschichte reif war
Bereits 2000 erzählte André dem Comic-Autor Guy Delisle seine Leidensgeschichte. Delisle, der mit seinen tagebuchartigen Aufzeichnungen aus internationalen Hotspots wie «Pjöngjang», «Birma» oder «Jerusalem» internationale Bestseller gelandet hat, war von der Geschichte fasziniert.
Er benötigte aber 16 Jahre, bis er dafür die richtige Form gefunden hatte. Langsam, linear und reduziert.
Vom gewöhnlichen Geisel-Sein
Delisle inszeniert die Geiselhaft nicht als Action-Drama, sondern als die endlose Wiederholung alltäglicher Routinen, als ein zermürbendes Warten, als tödliche Langeweile – das immer aus Andrés Perspektive.
Bewusst, wie Delisle betont: «Ich wollte, dass der Leser im Kopf von André steckt. Deshalb drängten sich die Ich-Perspektive und das Präsens auf, auch der Verzicht auf eine allwissende Off-Stimme. Der Leser soll mittendrin sein, alles passiert unmittelbar – das erhöht die Spannung, ohne dass ich zu dramatischen Effekten greifen musste.»
Wenn die Tage gezählt sind
Wir beobachten, wie André Verzweiflung und Wahnsinn vorbeugt, indem er pingelig die Tage zählt und in seinem Kopf die Schlachten Napoleons nachspielt. Er bleibt wachsam, sucht ständig nach Fluchtmöglichkeiten, verweigert sich jeder Verbrüderung mit seinen Kerkermeistern.
Am meisten beeindruckte Delisle aber Andrés Haltung: «Als es nach zwei Monaten zum ersten telefonischen Kontakt zwischen Ärzte ohne Grenzen und André kam, schrie dieser ins Telefon, sie sollten das Lösegeld – eine Million Euro – auf keinen Fall bezahlen, er käme schon klar! Das muss man sich mal vorstellen, in dieser Situation so zu reagieren.»
Im Geist einer Geisel
Vordergründig erzählt Guy Delisle in «Geisel» nicht viel mehr als 111 Variationen des gleichen Tagesablaufs. Dabei schafft er einen hoch spannenden erzählerischen und atmosphärischen Sog, indem er einen Einblick gewährt in die Gefühls- und Gedankenwelt des Entführten,.
Der Leser wird immer wieder auf sich selber zurückgeworfen und mit der Frage konfrontiert, wie er sich in dieser Situation verhalten hätte.
Aufs Notwendige reduziert
Das liegt nicht zuletzt an seiner Bildsprache. Delisle hat sich für einen möglichst reduzierten Stil entschieden, der nur das Notwendige zeigt und nicht vom Wesentlichen ablenkt.
«Die Stilisierung und der sehr feine Strich», erklärt er, «verleihen dem Protagonisten eine gewisse Verletzlichkeit. Das kühle Blau, das ich über die Zeichnungen legte, verstärkt die unangenehme Atmosphäre der Situation.»
Der Leser in Handschellen
Die Herausforderung sei es gewesen, «den Leser die Zeit spüren zu lassen, ohne ihn zu langweilen», sagt Delisle. «Ich wollte das Gefühl des Eingeschlossenseins und der langsam verstreichenden Zeit auf möglichst körperliche Weise vermitteln.»
Das ist Delisle gelungen. «Geisel» verkaufte sich in Frankreich nahezu 100'000 Mal und wurde in viele Sprachen übersetzt. Das ist kein Zufall: Dem Sog dieser Geschichte kann sich der Leser kaum entziehen – bis er die Gefangenschaft aus Andrés Perspektive wahrnimmt und die Handschellen, die ihn an den Radiator ketten, zu spüren glaubt.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktuell, 17.05.2017, 16.50 Uhr.