Schon als Kind muss er kämpfen. Die Eltern sind mit ihm überfordert, das Jugendamt verfrachtet ihn von einem Heim ins nächste. Mit 13 nimmt er das erste Mal Kokain. Er ist 21, als die Mutter stirbt. Kurz darauf lässt die Stadt Mannheim die Wohnung der Eltern räumen. Damit verliert der drogenabhängige Brox seine letzte Zuflucht.
Dreissig Jahre lang lebt er auf den Strassen Deutschlands. Wie es ihm dabei erging, hat er jetzt niedergeschrieben. «Kein Dach über dem Leben» heisst sein autobiografisches Buch, das Einblick in sein Leben als Obdachloser gewährt.
Episoden der Heimatlosigkeit
«Dass ich in dieser Stunde in einen dreissigjährigen Krieg gestossen wurde, einen ums Überleben auf der Strasse, war mir nicht klar. ‹Dreissigjähriger Krieg› – war das eine Metapher für mein kommendes Leben?», schreibt Brox.
Seinen «Krieg» schildert er nicht chronologisch, sondern in lose aufeinanderfolgenden Episoden. Ein wirklicher Spannungsbogen kommt dabei nicht zustande.
Mehr Realität als Literatur
Auch die Sprache des Buchs wirkt teilweise arg blumig und überfrachtet: Da «platzt die Wut» beinahe aus seiner «Haut heraus», und jemand schaut ihn an «wie ein Kleinkind», das wissen will, «ob der Mond hier gerade als gelber Käse vorbeigerollt wäre».
Ob Brox selbst so spricht oder solche Formulierungen seinem Ghostwriter Albrecht Kieser geschuldet sind, lässt sich nicht feststellen. Grosse Literatur ist Brox’ Biographie zwar nicht, aber dennoch lesenswert. Sie vermittelt, soweit möglich, eine Ahnung davon, was es heisst, auf der Strasse zu leben.
Gewalttätige Gegenwart
«Wem der Rückzug ins Eigene verwehrt ist, weil es kein Eigenes gibt, der lebt nirgends aufgehoben», schreibt Brox. «Es schwingt in ihm kein Gegengewicht gegen das Gewicht der ständigen Bedrohung und der gewalttätigen Realität, da ist nirgendwo Stille um ihn, nirgendwo kann er sich die Decke über den Kopf ziehen und ist allein, es gibt kein Atemholen.»
Brox macht seine permanente Unsicherheit nachfühlbar, indem er seinen Alltag auf der Strasse nüchtern schildert. Er beschreibt, wie er angepöbelt wird, wie Regenschauer ihn durchnässen, wie er verzweifelt nach einem geschützten Plätzchen sucht – und sich zur Not zum Schlafen in eine Telefonzelle quetscht.
Verachten und verweigern
Ohne moralischen Zeigefinger bringt er den Leser dazu, seine eigene Haltung gegenüber Obdachlosen zu hinterfragen. Auch das macht das Buch deutlich: wie sehr die Gesellschaft Brox und «seinesgleichen» verachtet.
Passanten beschimpfen ihn als faulen Nichtsnutz, Sachbearbeiter verweigern ihm willkürlich Leistungen, in manchen Notunterkünften bekommt er verschimmeltes Essen vorgesetzt.
Gedanken, ertränkt in Alkohol
Am erschreckendsten an diesem Buch aber ist die Erkenntnis: Menschen starten mit sehr ungleichen Chancen ins Leben. Richard Brox wird in eine traumatisierte Familie hineingeboren: Der Vater, ein Nazigegner, und die Mutter, eine polnische Jüdin, sind beide KZ-Überlebende und werden nachts von Alpträumen heimgesucht. Ihre Erinnerungen ertränken sie im Alkohol.
Der kleine Richard versteht nicht, wieso sich seine Eltern nicht um ihn kümmern: «Ich floh vor meiner Sehnsucht nach ihrer Liebe, vor meiner Angst vor ihren Geschichten und ihren Schreien, vor meiner Wut auf ihre Geschichten, vor meiner Verwirrung über ihre Kälte und vor meiner Einsamkeit inmitten der brodelnden Gefühlswelt meiner Eltern.»
Bloggen für Obdachlose
Immer wieder wird Brox als Kind für einige Zeit in Heime gesteckt – die Betreuer schlagen und demütigen ihn, einige belästigen ihn sexuell. Es ist eine düstere Lebensgeschichte. Und doch auch eine hoffnungsvolle.
Denn Brox hat viel erreicht: Er hat seine Drogensucht überwunden, einen eigenen Blog gestartet, in dem er anderen Obdachlosen Tipps für Notunterkünfte und Beratungsstellen gibt. Sein Traum: ein Hotel für Obdachlose zu gründen – einen Zufluchtsort, an dem sie mit Würde und Respekt behandelt werden.
Sendung: SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 04.01.2018, 17.20 Uhr