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Buch «Die digitale Seele» Die Unsterblichkeit wartet in der Cloud

Wie trauern, wenn Künstliche Intelligenz dafür sorgt, dass wir mit Verstorbenen chatten können? Was wollen wir hinterlassen, wenn alle darauf zugreifen können? In ihrem Buch suchen Moritz Riesewieck und Hans Block nach Antworten.

Eine Plattform, auf der wir mit Toten chatten können? Was nach Science Fiction klingt, ist heute Realität. Das Unternehmen heisst ETER9 und kommt aus Portugal.

Auch Facebook wird zum digitalen Friedhof. Laut einer Studie der Oxford University wird in 50 Jahren die Hälfte aller Userinnen und User auf Facebook bereits tot sein.

Die digitale Auferstehung

Die Daten, die diese Menschen hinterlassen, dürften für die grossen Tech-Unternehmen von unschätzbarem Wert sein. Denn wer diese Daten sammelt, kann einen toten Menschen digital auferstehen lassen.

Mehr noch: Weil wir es mittlerweile mit selbstlernenden Algorithmen zu tun haben, kann sich der digitale Untote sogar stetig weiterentwickeln. Er wird ganz einfach mit allem gefüttert, was im Netz zur Verfügung steht. Von aktueller Berichterstattung über Chat-Verläufe bis Wikipedia-Wissen.

Ewiges Leben durch Technologie

«Unsterblichkeit ist im 21. Jahrhundert also ganz ohne Gott möglich», schlussfolgert Autor Moritz Riesewieck. Die neue, weltliche Heilserzählung lautet: «Das ewige Leben ist nicht nur im Himmel zu haben. Die Unsterblichkeit wartet in der Cloud. Sie lässt sich technologisch erzeugen. Der neue Gott heisst: Künstliche Intelligenz.»

Die beiden Autoren Hans Block und Moritz Riesewieck wollten es genauer wissen und haben sich für ihr Buch zwei Jahre lang auf die Suche nach der «digitalen Seele» gemacht. Sie befragten Expertinnen und Experten wie den Neurowissenschaftler Christof Koch, die KI-Entwicklerin Eugenia Kuyda und den Philosophen Nick Bostrom.

Buchhinweis

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Moritz Riesewieck und Hans Block: «Die digitale Seele – Unsterblich werden im Zeitalter Künstlicher Intelligenz». Goldmann Verlag, 2020.

Sie sprachen aber auch mit Menschen, die von sich, einem lieben Freund oder Angehörigen bereits ein digitales Abbild erschaffen haben: einen Chatbot. Mit diesen virtuellen Doppelgängern können die Hinterbliebenen kommunizieren, chatten – und im besten Fall Trost finden.

Gefahr oder Chance?

Manche Menschen werden durch die sprechenden Wiederkehrenden aber auch in ihrer Trauer gestört. Es sind folglich grosse Fragen, die Riesewieck und Block in ihrem Buch verhandeln: Wie und in welchen Räumen wollen wir zukünftig trauern? Wie verändert das Nicht-Vergessen unser Erinnern? Welches Bild möchte ich von mir hinterlassen – sprich, welche Daten? Und wer darf auf diese Daten zugreifen?

Wer den Tod und das mögliche Leben danach aus ethischen, philosophischen und wissenschaftlichen Blickwinkeln betrachtet und ausserdem Beispiele aus der Literatur, der Mythologie und der Popkultur anfügt, wird sich zwangsläufig verzetteln.

Es ist kaum möglich, jeden Gedanken zu Ende zu führen. Doch mit ihrem Buch «Die digitale Seele» regen die beiden Mittdreissiger in erster Linie dazu an, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen.

Die Autoren

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Moritz Riesewieck und Hans Block, beide Jahrgang 1985, studierten an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin Regie. Für ihre Theaterformate und Dokfilme wurden sie mehrfach ausgezeichnet. Mit «The Cleaners», eine Dokumentation über die Schattenindustrie digitaler Zensur in Manila, erregten die Grimme-Preisträger weltweit Aufmerksamkeit.

Beschäftigung mit der eigenen (Un)Endlichkeit

Moritz Riesewieck und Hans Block erzählen in tagebuchartigen Notizen übrigens auch von ihren persönlichen Denkprozessen. Etwa wie sie den Tod von lieben Menschen erst über das Schreiben verarbeiten. Oder wie sie Leerstellen, die der fehlende Glaube hinterlassen hat, ansatzweise füllen konnten.

Es sind solche Anmerkungen, die zum Nachdenken anregen – und angesichts der fortschreitenden Möglichkeiten, die das Sachbuch «Die digitale Seele» eindrücklich aufzeigt, sollten wir das auch dringend tun.

SRF2 Kultur, Kultur Aktualität, 28.09.2020, 17:20 Uhr.

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