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Buch über Behinderungen Buchautor: «Es ist nicht das Ende des Lebens, aber ein anderes»

In «Jeder Krüppel ein Superheld» schildert Christoph Keller unverblümt, was es heute heisst, mit einer körperlichen Behinderung zu leben.

Die Behinderung bestimmt sein Leben: Spinale Muskelatrophie, SMA. Als Teenager hat der St. Galler Schriftsteller Christoph Keller die Diagnose vom allmählichen Verlust seiner Muskelkraft erhalten. Und am Beispiel seiner beiden älteren Brüder, die an derselben Krankheit leiden, hatte er immer vor Augen, was auch ihm droht.

Ein Mann im Rollstuhl umringt von Bäumen
Legende: In seiner Jugend wurde bei Christoph Keller SMA diagnostiziert. Das verarbeitete er in «Der beste Tänzer». KEYSTONE/Gian Ehrenzeller

Mit 30 konnte er noch ein Stück weit gehen, «fünfzig Meter, zweihundert, manchmal mehr. Das hing von meiner Tagesform ab.» Mit 45 Jahren war damit Schluss. Heute ist er 56 und hat soeben sein 25. Buch veröffentlicht: «Jeder Krüppel ein Superheld».

Das Buch ist ein Augenöffner

Eine Textcollage aus Mini-Essays und Dramoletten, aus Notaten, Zitaten und Gedichten öffnet den Leserinnen und Lesern die Augen für die Herausforderungen, mit denen Menschen im Rollstuhl täglich zu kämpfen haben. Schonungslos und lakonisch beschreibt Keller, was es heisst, am Morgen aufzustehen und auf die Toilette zu gehen.

Welche Irrfahrten er in einem Museum absolviert, weil einerseits weder Lift noch Rampe vorhanden sind und andererseits das Aufsichtspersonal nicht eingestellt ist auf Menschen wie ihn.

Keller, der viele Jahre in New York gelebt hat, stellt fest, dass auch Veranstaltungen des amerikanischen Autorenverbands PEN nicht barrierefrei sind. Auf seine mehrfache schriftliche Bitte, der PEN möge «den Schutz der Grundrechte von Mitgliedern mit einer Behinderung endlich berücksichtigen», bekommt er nicht einmal eine Antwort. Den Mitgliederbeitrag aber würde der Club gerne einstreichen.

Menschen mit Behinderung sind unsichtbar

Wer das Buch liest, erschrickt, wie gedankenlos Nicht-Behinderte manchmal sind: Die Aufschrift «Im Brandfall Treppen benutzen» ist für Menschen im Rollstuhl ein Schlag ins Gesicht. Seltsam mutet Keller auch die Unsichtbarkeit der Behinderten an.

Ob auf dem Trottoir, im Restaurant oder im Konzertsaal, immer passiere dasselbe: «Die Leute sehen, wie andere für uns gerade Platz gemacht haben, rühren sich aber immer noch nicht vom Fleck. Wir müssen sie erst fragen.» Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass in der Schweiz rund 20 Prozent der Bevölkerung eine Behinderung hat und dass es jeden und jede jederzeit treffen kann.

Ein Flaneur auf Rädern

Als Mensch mit einer fortschreitenden Muskelkrankheit muss Christoph Keller sich täglich mit dem Thema Behinderung auseinandersetzen. «Der beste Tänzer» heisst sein berührender autobiografischer Roman, der 2003 erschienen ist.

Jetzt, 17 Jahre später, hat er ein ganz anderes, ein fragmentarisches Buch zum selben Thema geschrieben: Präzis spiesst Keller in seinen Miniaturen Missstände auf, verbittert aber ist er keineswegs. Er lässt sich nicht unterkriegen und nennt sich selbstbewusst einen «Flaneur auf Rädern».

Gegenentwurf zu Kafka

Und dann ist da noch Franz Kafka, der für Keller eine eminent wichtige Rolle spielt. Hat Kafka mit «Die Verwandlung» eine beklemmende Geschichte über Behinderung geschrieben, so wagt Keller einen Gegenentwurf, den er kapitelweise in sein hybrides Buch einfügt: Seine «Wanzengeschichte» ist eine Utopie, in der der Held am Ende nicht zugrunde geht, sondern davonfliegen kann.

Buchhinweis

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Christoph Keller: «Jeder Krüppel ein Superheld. Splitter aus dem Leben in der Exklusion». Limmat-Verlag, 2020.

Das kann Christoph Keller nicht, und wenn er in ein Flugzeug steigt, dann geschieht das unter fürchterlichen Qualen. Im persönlichen Gespräch sagt er: «Das Leben mit einer Behinderung ist sehr mühevoll, aber es ist nicht das Ende des Lebens. Es ist ein anderes Leben.»

Sendung: Radio SRF2 Kultur, Kontext, 8.09.2020, 9:02 Uhr

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