Als Ben aus der Schule kam, wollte er seiner Mutter vom Wunderschwimmer Mark Spitz und seinen sechs Goldmedaillen erzählen. Sie aber flüstert ihm ins Ohr: «Jonas ist im Krankenhaus gestorben.» Der kleine Bruder ist tot.
Als sie noch hinzufügt, Gott habe Hilfe von einer Seele gebraucht und sich dafür deinen Bruder Jonas ausgesucht, rettet sich der 11-Jährige in ein Bild. Er stellt sich Gott wie einen Chef vor, der Seelen als Arbeiter zum Putzen und Schleppen und Aufräumen durch die Gegend schickt. Seine Schlussfolgerung: «Gott selbst ist faul in seiner Allmacht». Die Vorstellung erlaubt es ihm, seine hilflose Wut irgendwohin zu richten.
Die Flucht in eigene Bilder
Immer wieder ist das Erzählen der kindlichen Verarbeitung von diesen Bildern bestimmt. Den auf dem Fussboden liegende grüne Anorak des Bruders sieht er als «rasenbewachsene Insel im schwarzen Linoleummeer des Flurs.
Sein höchster Punkt ist die linke Schulter, dort steht ein Ausflugslokal.» Es entsteht der Eindruck, dass die Bilder Behälter sind, in die er Trauer und Entsetzen füllt.
In der Stille ausrasten
Neben diesen Bildern gibt aber auch etwas anderes, nämlich die gleichförmig erzählte Monotonie des neuen Alltags. Wenn die Mutter ihn einerseits tröstet und verwöhnt, andererseits in unvorhergesehenen Momenten ausrastet.
Sie nimmt ihn zum Beerdigungsinstitut mit, wo er das Wort «Pietät» im Schaufenster für den Nachnamen des höflichen Herrn hält, und sich für die Mutter schämt, die ihn anders anredet. An Weihnachten geben sich beide ungeheuer Mühe, es einander besonders schön zu machen. In diesem monotonen Erzählen ist die Betäubung nach dem Schock gut vermittelt.
Qualen des Unaufgelösten
Zwischendurch wechselt die Perspektive. Dann heisst die Mutter nicht mehr «Mami», sondern «Ruth». Als Leserin begleitet man sie auf den Friedhof, wo sie wütend den Eimer des Friedhofsgärtners umstösst, der sie anmassend zu belehren versucht.
Sie geht zurück ins Krankenhaus und jenes Schwimmbad, wo die Krampfanfälle des Sohnes zu ersten Mal auftauchten. Dass die Erkrankung rätselhaft bleibt – das macht es schlimmer; alles Unaufgelöste quält eben noch mehr.
Währenddessen wird die Erinnerung an Jonas für Ben immer verschwommener. «Jonas ist aus der Leere, die er zurückgelassen hat, verschwunden», stellt er fest. Den nächsten Sommer erlebt er viele Winnetou- und Old-Shatterhand-Abenteuer mit seinen Freunden – bis ihn im Freibad plötzlich die Erinnerung anfällt, an Jonas ersten Anfall. Elf Tage später starb er.
Von der Bühne auf das Papier
Manchmal kippt die Balance. Stephan Lohse will seine Geschichte in zu viele Richtungen dehnen. Viel Zeitgeist der 70er-Jahre – Rex Gildo, Würstchen mit Kartoffelsalat und Schlaghosen – oder auch die Rückblenden aus der Kindheit der Mutter vermitteln mitunter das Gefühl, Stephan Lohse versuchte mehrere Bücher in ein Buch zu quetschen.
Für sein Debut als Schriftsteller folgte der Schauspieler Stephan Lohse dem Bedürfnis, der eigenen Kreativität mal mit längerem Atem folgen zu können als dies einem Schauspieler möglich ist, der immer wieder vom Regisseur unterbrochen wird.
Trauer als Teil der Persönlichkeit
Gut gelingt ihm das Erzählen, wie ein Kind immer weiter ins Leben hineinwächst, während für die Mutter das Leben in gewissem Sinne stehen bleibt. Für sie wird die Trauer wesentlicher Teil ihrer Person bleiben. Manchmal scheint es, dass sie dem Tod näher ist als dem Leben. Bis Ben sie wieder zurückholt.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 18.04.2017, 16:50 Uhr