Das Wichtigste in Kürze:
- Der Zeichner Riad Sattouf ist sehr erfolgreich, seine Comics haben in Frankreich enorme Auflagen .
- Das neuste Werk soll acht Bände umfassen: Jeder soll ein Jahr aus dem Leben der 10-jährigen Esther erzählen.
- Esther träumt davon, Tänzerin zu werden. Und sie wünscht sich ein Smartphone . In ihren Geschichten spiegelt sich auch das heutige Leben in Frankreich .
In Frankreich ist Riad Sattouf als grosser Humorist bekannt. Seine Graphic Novel «Der Araber von morgen» («L’Arabe de la Future») erreichte eine für das Genre riesige Auflage von über 700'000.
Es ist die Geschichte seiner eigenen Jugend in den 1980er-Jahren, die er vor allem in Syrien verbrachte. Gerade erscheint auf Deutsch der dritte Band dieser Erzählung: Zeitgeschichte mit Kinderaugen gesehen und mit schnörkellosem Strich gezeichnet.
Lange Jahre hat Riad Sattouf auch für «Charlie Hebdo» gezeichnet. Kurz vor den Anschlägen auf das Satire-Magazin beendete er sein Engagement, um sich einem neuen Langzeitprojekt zu widmen, das nun auch bei uns erscheint.
Eine graphische Langzeitstudie
Wieder ist es der kindliche Blick, der Sattouf fasziniert: «Esthers Tagebücher» widmen sich dem Leben eines zehnjährigen Mädchens. Esther lebt mit ihrer Familie im 17. Arrondissement, einem sehr heterogenen Stadtteil mitten in Paris. Ihr Vater ist Fitness-Trainer, alles andere als wohlhabend. Esther liebt ihn über alles, wie sie immer wieder betont.
Weil der Vater Esther vor den Problemen an staatlichen Schulen bewahren will, schickt er sie an eine Privatschule. Ihre beste Freundin Eugénie stammt aus wesentlich wohlhabenderem Hause. So deutet sich im Mikrokosmos der kindlichen Welt der gravierende Bruch an, der die französische Gesellschaft prägt.
Esthers Geschichten basieren auf den Erzählungen eines realen Mädchens. Es ist die Tochter von Freunden, die der Zeichner einmal wöchentlich trifft: «Ich weiss nie, was sie mir erzählen wird. Es ist immer sie, die erzählt und die Richtung angibt. Was mich interessiert, ist ihre Weltauffassung».
Das Porträt einer Generation
Der Comic zeichnet in Momentaufnahmen Erlebnisse eines Kindes aus der Mittelschicht – und zugleich das Porträt einer Generation im heutigen Frankreich. Die schwierige gesellschaftliche Situation spiegelt sich um Umgang mit Medien: Esthers Familie will das Mädchen beschützen. Sie erlaubt ihr nicht, die Nachrichten im Fernsehen zu sehen oder im Internet zu surfen.
Im Mittelpunkt von Esthers Welt stehen ihre Freundinnen, ihr Traum, Tänzerin zu werden – und der innige Wunsch, ein eigenes Smartphone zu besitzen.
Dennoch schlagen sich Ereignisse wie die Anschläge auf «Charlie Hebdo» in der Comic-Welt von «Esthers Tagebüchern» nieder. Esther muss angesichts des Terrors an einer Schweigeminute in ihrer Schule teilnehmen.
Riad Sattouf setzt diese Episode wie alle anderen pointiert mit seinem faszinierend-schlichten Strich in Szene – meist in Schwarzweiss gehalten, sparsam in wenigen weiteren Farben. Und nahe an Sophies Sprache, die Worte wie «Geschmeidigkeit» als das höchste aller Dinge zelebriert.
Eine Generation, die schnell erwachsen wird
Esthers Welt ist noch geprägt von kindlicher Naivität, doch auch von kindlicher Bosheit. Und hin und wieder wirkt die Comic-Heldin schon sehr erwachsen: «Ich habe den Eindruck, dass Esthers Generation viel schneller erwachsen wird als meine».
«Esthers Tagebücher» sind als Langzeitprojekt angelegt. Über acht Jahre möchte Sattouf Esthers Entwicklung zur Erwachsenen begleiten, so dass es jedes Jahr einen neuen Band dieser Geschichten geben soll.
Alle Bände zusammen ergeben so ein höchst charmantes Porträt, das entfernt an den Spielfilm «Boyhood» von Richard Linklater erinnert.
Sendung: SRF 1, Kulturplatz, 3.5.2017, 22.25 Uhr.