Eine Software, die Gedanken direkt in geschriebene Sprache verwandelt? Der Schriftsteller Markus Hug ist fasziniert, als er von dieser App hört – das wäre doch das ideale Tool für sein Schreiben!
Andererseits – und das wäre die Kehrseite – wüsste man nicht, wer mithilfe dieser App in die Intimität unseres Denkens eindringen und es schlimmstenfalls in Echtzeit im Internet enthüllen könnte.
App gegen Schreib- und Alltagskrisen
Markus Hug ist kein sonderlich erfolgreicher Autor. Seine Literatur ist zu experimentell für den Massengeschmack. Um seine Gedanken möglichst ungefiltert auf das Papier zu bringen, diktiert er sie in einer Art Trance in sein Smartphone und lässt sie von einer Spracherkennungs-App in Texte umsetzen.
Mit dem Schreiben geht es gerade nicht voran. Der Alltag überfordert den introvertierten Autor: Sein kleiner Sohn Andreas lässt ihm, weil er ständig weint und brüllt, keine Ruhe. Seine Beziehung mit Annina steuert in eine Sackgasse.
Kein Wunder, horcht er auf, als Gerhard, der neue Lover einer Freundin, von der App erzählt, die er für das Zürcher Tech-Start-Up «Brainfon» entwickelt. Eine App, schwärmt Gerhard, die schon bald unsere Gedanken lesen und verschriftlichen wird.
Markus ist misstrauisch. Sagt Gerhard die Wahrheit? Oder prahlt er nur?
Was wäre, wenn …
Gnehm erzählt «Gläserne Gedanken» so, als verfügte er bereits über diese App: Er führt uns ganz nahe an Markus heran und lässt uns quasi in Echtzeit an dessen ununterbrochenem Gedankenfluss teilhaben.
Markus' Gedanken umkreisen nicht nur seine Schreibkrise und seinen aufreibenden Alltag, sondern auch die Erinnerungen an seinen übermächtigen Vater sowie erotische Fantasien. Mehr und mehr werden sie auch von der App eingenommen, die er als Verheissung und Bedrohung zugleich empfindet.
Je bewusster sich Markus des Potenzials einer solchen App wird, desto tiefer rutscht er in paranoide Verschwörungstheorien ab. Seine Recherchen und seine hitzigen Diskussionen mit Gerhard geben ihm jedoch keine befriedigenden Antworten.
Markus’ Ängste sind nachvollziehbar: Was könnte (und würde) ein Tech-Konzern mit dem Einblick in unsere Gedanken nicht alles anstellen können (und wollen) …
Klug, aber konstruiert
«Gläserne Gedanken» ist klug, originell und spannend. Gnehms Ehrgeiz, sein Thema möglichst facettenreich aufzufächern und aus möglichst vielen Perspektiven zu reflektieren, ist deutlich. Zu deutlich vielleicht. Darunter leiden die Figuren und die Handlung, die streckenweise etwas hölzern und konstruiert wirken.
Umso gelungener ist dafür die Gestaltung des Buchs, die das Thema formal kongenial aufgreift: «Gläserne Gedanken» hat das Format eines Smartphones. Die Bilder stehen nicht neben-, sondern untereinander – die Lektüre imitiert das Scrollen auf einem Smartphone-Bildschirm, so gut dies auf Papier eben möglich ist.
Das ist nicht nur ein reizvolles Gimmick, sondern erhöht die inhaltliche Eindringlichkeit der Lektüre: Das Format denkt den Inhalt weiter. Selten waren Inhalt und Form eines Buchs so kongruent.