Irgendwann in der Mitte des Buches taucht ein kleiner Junge mit zwei Leberflecken im Gesicht vor dem Bild auf. Er schaut uns direkt an, ist fasziniert und freut sich offensichtlich über das, was er sieht.
Er trägt eine Lederhose, wie es üblich ist im München der 1930er-Jahre, und wird von Leuten umgeben, die andere Bilder betrachten. Plötzlich wird eine Sprechblase sichtbar, in der steht, dass sich der Junge den «Schund» nicht länger anschauen und stattdessen in die Ausstellung über arische Kunst im Haus gegenüber mitkommen soll.
Blick des Bildes ins Museum
Wir sind also in der Ausstellung «Entartete Kunst» in München, jener NS-Propagandashow in den Hofgartenarkaden, in der 1937 der «verheerende Einfluss des Kulturbolschewismus» entlarvt werden soll, während im «Haus der Deutschen Kunst» gegenüber «arische Kunst» gezeigt wird. So, wie die Nazis sie haben wollten.
Diese kleine Szene in der Mitte des Buches beschreibt denn auch das, was diese Graphic Novel ausmacht: Die Kunst, die zu «entarteter Kunst» erklärt wird. Und die aussergewöhnliche Perspektive des Bildes selbst: «Zwei weibliche Halbakte».
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Bild 1 von 3. In Luz' Graphic Novel wird das Gemälde «Zwei weibliche Halbakte» zum Zeugen des Aufstiegs des Nationalsozialismus, des staatlichen Antisemitismus und der Enteignung jüdischer Familien sowie der Diffamierung moderner Kunst als «entartet». Bildquelle: Reprodukt.
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Bild 2 von 3. Es erlebt auch einen Besuch des «Führers», der die Arisierung der Museen fordert ... Bildquelle: Reprodukt.
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Bild 3 von 3. ... sowie unzählige andere Museumsbesucherinnen und -besucher in aller Welt. Bildquelle: Reprodukt.
«Zwei weibliche Halbakte» entsteht 1919 in einem Waldstück bei Berlin. Der lungenkranke und daher ständig hustende Maler Otto Mueller ist ein Expressionist, der sich immer gegen diesen Begriff wehrt. Sein Bild malt er nach dem Vorbild seiner Frau Maschka, während im Hintergrund ein dicker, deutscher Spaziergänger auftaucht, der gafft und sich über Muellers Kunst mokiert.
Später trennen sich Otto und Maschka. Mueller geht nach Breslau, wo er Lehrer an der «Staatlichen Akademie für Kunst und Kunstgewerbe» wird.
Zwischenstation
Das Bild verkauft er dort an den jüdischen Geschäftsanwalt und Kunstsammler Ismar Littmann. Nun hängt es in dessen Büro, mit Blick auf eine Strasse, auf der immer mehr braune Hemden und Hakenkreuzfahnen auftauchen. Bis sich Littmann, der 1934 seine Zulassung als Anwalt verliert und sich immer mehr verschulden muss, das Leben nimmt.
Die Geschichte ist beispielhaft für Luz, der nur dank eines unglaublichen Zufalls den islamistischen Anschlag auf «Charlie Hebdo» überlebt hat. Er weiss genau, wie weit verblendete Ideologen zu gehen bereit sind, wenn Kunstwerke zu Feindbildern werden.
Fast alle seine Freunde aus der «Charlie Hebdo»-Redaktion, mit denen er über zwanzig Jahre zusammengearbeitet hat, sind an jenem 7. Januar 2015 ums Leben gekommen. Luz, der lange gebraucht hat, um mit diesem Erlebnis fertig zu werden und mit «Katharsis» und «Wir waren Charlie» zwei Bücher zum Thema veröffentlicht hat, bleibt denn auch in diesem Buch der «Freien Kunst» verbunden.
Happy End
Und so zeigt er – immer aus der Perspektive des Bildes – dessen weitere Geschichte, die im Gegensatz zu anderen Raubkunst-Geschichten ein glückliches Ende nimmt. Am Schluss, und das ist dann schon um die Jahrtausendwende, hängt das Bild dort, wo es hingehört: Legal im Kölner Museum Ludwig.
Dort taucht ganz am Ende des Buches ein alter Mann mit zwei Leberflecken im Gesicht auf und bleibt vor dem Bild stehen. Er schaut uns direkt an, mehrere Bilder lang, und scheint sich immer mehr zu freuen. So, wie man sich freut, wenn man nach einer Ewigkeit, einem ganzen Leben vielleicht, einen alten Freund wieder trifft, den man zuerst gar nicht mehr erkannt hat.