«Work-Life-Balance»: Was für ein Unwort. Und doch haben wir uns mittlerweile so sehr an diese Floskel gewöhnt, dass wir sie gar nicht mehr hinterfragen. Das übernimmt an unserer Stelle die deutsche Comic-Autorin Aisha Franz in ihrer jüngsten, gleichnamigen Graphic Novel.
« Work-Life-Balance » also. Oder: Willkommen in der unschönen neuen Arbeitswelt von schuhfreien Tech-Firmen, in denen kreativ geschuftet, aber schlecht verdient wird.
Zwischen Frustration und Prekariat
Aisha Franz setzt in ihrer Graphic Novel «Work-Life-Balance» vier typische Vertreterinnen und Vertreter dieser modernen Arbeitswelt in Szene, die um das Gleichgewicht zwischen Arbeit und Leben ringen – und nur Frustration, Unzufriedenheit und Prekariat finden.
Die Keramikerin Anita ist eine verhinderte Künstlerin und hadert mit ihrem Handwerk. Die sexuell hyperaktive Start-up-Angestellte Sandra zelebriert ihre erschütternde Banalität in vielgeschmähten Internetvideos, bis sie wegen eines sexuellen Übergriffs gefeuert und, schlimmer noch, von ihrer Community gecancelt wird. Rex ist ein genialer IT-Nerd und virtuoser Hacker, der sich jedoch regelmässig über den Tisch ziehen lässt und sich mit Pizza-Ausliefern über Wasser hält.
Rasant und voll schräger Details
Der gemeinsame Bezugspunkt von Rex, Sandra und Anita ist eine Therapeutin von zweifelhafter Sensibilität und Kompetenz, die am liebsten zum Sound von tippendenden Tastaturen meditiert und ihre Dienste auch online und virtuell anbietet – als Virtuapist. Die Geschichten dieser vier Figuren kreuzen, verknäueln und entwirren sich, bis garantiert alles aus der Balance gepurzelt ist.
Klischees? Ja, Klischees, und wie! Mit satirischer Begeisterung überzeichnet und seziert Aisha Franz diese Stereotypen. Ihre Erzählweise ist rasant, die Zeichnungen sind stilisiert und karikierend, dynamisch und voll schräger Details und Seitenhieben.
Der Look alter Comicheftchen
Das Farbkonzept leistet einen wichtigen Beitrag zum dynamischen Eindruck von «Work-Life-Balance». Aisha Franz weist jeder Figur einen Farbakzent zu: Bei Sandra sind es die orangeleuchtenden Haare, bei Anita ein dunkelvioletter Pullover, während Rex ein knallgrünes Hemd trägt.
Zusammen mit den pointillistisch gerasterten Hintergründen erinnert die Farbgestaltung streckenweise an die künstlich kolorierten und billig gedruckten Comic-Hefte der 1970er-Jahre.
Humor mit Tiefgang
Dass Aisha Franz, die 1984 in Deutschland geborene Tochter eines kolumbianisch-chilenischen Paars, zu den besten Comic-Autorinnen im deutschen Sprachraum gehört, hat sie mit ihren früheren Graphic Novels «Alien» (2011), «Brigitte» (2012) und «Shit Is Real» (2016) hinlänglich bewiesen.
Aisha Franz kann Comics wie kaum jemand sonst im deutschen Sprachraum. Sie hat einen untrüglichen Sinn für das Erzählen in Bildern und setzt ihren scharfen Humor geschickt ein, um auch aus ernsthaften Themen süffige Unterhaltung zu machen – die aber nie seicht ist, sondern immer mit Tiefgang daherkommt.
Das Warten hat sich gelohnt
Käme Aisha Franz aus einem echten Comicland wie Frankreich oder den USA, wäre sie längst ein Star und würde im Jahrestakt neue Comics veröffentlichen. Ausserdem wäre in diesem Fall ihre eigene Work-Life-Balance ausgeglichener, weil sie sich ausschliesslich auf das Comiczeichnen konzentrieren könnte.
Aber auch wenn seit ihrer letzten Graphic Novel «Shit Is Real» sechs Jahre vergangen sind – das Warten hat sich gelohnt. «Work-Life-Balance» ist ein mitreissendes Vergnügen, in der Zeitkritik, Satire und die Lust am Erzählen und Zeichnen perfekt ausbalanciert sind.