SRF: Hat Sie die Cyber-Attacke «Wanna Cry» überrascht?
Philipp Theisohn: Nein. Und ich denke auch nicht, dass sie jemanden überraschen kann, der mit den Kriegsmethoden des Cyberspace vertraut ist. Wir kennen diese Methoden schon seit den 1980er-Jahren – aus der Fiktion und aus der Realität.
Wie nah ist der aktuelle Angriff an einem Science-Fiction-Plot?
Zu einem Science-Fiction-Plot fehlt eine Sache: Dass wir erfahren, wer hinter dem Angriff steckt und warum er den Angriff macht.
Fällt Ihnen ein Science-Fiction-Roman ein, der ein ähnliches Szenario entwirft?
In Daniel Suarez «Daemon» beispielsweise haben wir ähnliche Szenarien: In grossen Unternehmen und bei politischen Entscheidungsträgern werden Rechner blockiert. Man kommt nicht an die Daten, ist aus dem System ausgesperrt.
In «Daemon» meldet sich aber eine Stimme und sagt: Wenn ihr wieder an eure Daten rankommen wollt, müsst ihr mir eure Firma überschreiben, dann ist es vorbei. Da beginnt der Plot.
Bei «Wanna Cry» weiss man noch nichts darüber, wer hinter dem Angriff steckt. Wie ist es denn in der Literatur: Welches Bild wird da vom Hacker gezeichnet?
In der Regel ist der Hacker ein Einzelkämpfer. In einer Welt, in der wir von Technik umgeben sind, von ihr bestimmt werden, sie aber gar nicht mehr verstehen, ist er derjenige, der die Algorithmen sehen kann, die unser Verhalten, unseren Konsum und unsere politische Meinung steuern.
In der bekanntesten Cyber-Erzählung «Matrix», dem Film der Wachowski-Brüder, ist der Hacker derjenige, der sagt: Ihr denkt, ich manipuliere euch über Algorithmen. Aber was ich mache, ist genau das Gegenteil: Ich zeige euch, dass ihr in einer Welt lebt, in der ihr permanent durch Algorithmen manipuliert werdet. Und nur, weil ihr wisst, dass es mich gibt, wisst ihr, dass ihr fremdgesteuert seid.
Das ist die Vorstellung, die der Hacker mit sich führt. Und die natürlich paranoid ist: Weil überall, wo ein Rechner steht, werden wir im Grunde gesehen, registriert und gesteuert.
Im Silicon Valley werden Science-Fiction-Autoren und -Plots sehr ernst genommen.
Wenn die Literatur Szenarien wie die aktuelle schon auf ähnliche Weise vorweggenommen hat: Würden Sie sagen, dass die Wissenschaft das Science-Fiction-Genre nicht ernst genug nimmt?
Nein. Man muss wissen, dass dort, wo der digitale Fortschritt sich abspielt – im Silicon Valley vor allem – Science-Fiction-Autoren und -Plots sehr ernst genommen werden. Sie sind auch an der Entwicklung beteiligt.
Leute, die Science-Fiction schreiben, entwerfen eine Welt der Zukunft und fragen nach den Bedürfnissen und Bedrohungen in dieser Welt.
Sie fragen im Silicon Valley nicht: Was passiert morgen und welche App könnten wir als nächstes platzieren? Sie fragen: Welche Technologie ist im Jahr 2040 die wichtigste? Wie sieht der Alltag aus? Das kann man nicht einfach hochrechnen. Es braucht Leute, die Szenarien entwerfen und Welten begehbar machen können, die noch nicht da sind.
Als es in den 1950er- und 1960er-Jahren um die Raumfahrt ging, waren immer Science-Fiction-Autoren beteiligt – sei es Arthur C. Clarke oder Robert A. Heinlein. Sie hatten den Blick dafür, was überübermorgen kommen könnte – dafür, welche Szenarien uns erwarten könnten.
Das Gespräch führte Katharina Mutz.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 15.5.2017, 17:08 Uhr