Mit «Jahre später» schliesst Schriftstellerin Angelika Klüssendorf ihre Trilogie ab. Es geht um ein Mädchen, das in desolaten Verhältnissen in der DDR aufwuchs. Das ist offen autobiografisch und doch grosse Literatur. Ein Gespräch über Realität und Fiktion.
SRF: Die Franzosen sagen: «Das Leben ist kein Roman» und machen der Fiktion damit implizit den Vorwurf, dass sie Wunschdenken bedient. Welchen Herausforderungen muss man sich stellen, wenn man das eigene Leben zum Material nimmt?
Angelika Klüssendorf: Ich denke, auch die Franzosen nehmen ihr Leben als Material, es geht gar nicht anders. Die Fiktionalität ist natürlich ein Kunstgriff, um das eigene Leben auf eine literarische Ebene zu heben. Trotzdem …
Kann man das Ausgedachte nicht auch als Beschönigung verstehen?
Manchmal ist das Ausgedachte aber auch eine Nicht-Beschönigung. «Hundert Jahre Einsamkeit» von Gabriel García Márquez zum Beispiel ist viel toller als die Tagebücher, obwohl sich Márquez in ihnen mit denselben Dingen beschäftigt.
Ich will mich nicht mit Márquez vergleichen, aber «Das Mädchen», «April» und «Jahre später» sind Romane. Wären es Autobiografien, würden sie sich ganz anders lesen.
Ich bin nicht der Meinung, dass es reine Fiktion wirklich gibt.
Was das Handwerk betrifft, wird es aber Unterschiede geben zwischen einer Geschichte, die Sie erfinden und einem autobiografisch gefärbten Text?
Der ausgedachte Text, der ja auch nie ganz ohne autobiografische Färbung auskommt, ist handwerklich sicher leichter zu bewältigen als der genuin autobiografische Text. Der muss viel genauer sein, finde ich. Da muss ich mehr Türen aufstossen als bei einem Text, den ich mir ausdenke.
Autobiografische Fiktion ist ja oft schillernder und komplexer als «reine Fiktion». Da fällt nicht alles so schön an seinen Platz. Reizt Sie das?
Ja, aber ich bin eben nicht der Meinung, dass es reine Fiktion wirklich gibt. Weil alles, was ich schreibe, meine Erfahrungen widerspiegelt.
Wenn ich über einen Serienmörder schriebe, so würde er viele Eigenschaften haben, die ich nur erfinden kann, weil ich Angelika Klüssendorf bin.
Einverstanden. Trotzdem, und unabhängig davon, wie viel Realität in die jeweilige Fiktion fliesst, scheint mir der Umwandlungsprozess wie ein Wunder. Wenn es keines wäre, würden wir ja alle Romane schreiben. Wie machen Sie es?
Meine Routine und mein jahrelanges Ringen um Handwerk halfen mir, die April-Trilogie zu schreiben. Vor zwanzig Jahren sass ich an meinem Schreibtisch, ganz klein mit Hut, und hätte mich am liebsten im Hut versteckt, weil die Schere in meinem Kopf so gross war.
Ich habe Hunderte Seiten Material weggeworfen, bevor mir ein erster Satz gelang und ich genug Distanz zu meinen Figuren hatte. Ich konnte nicht schreiben, was ich wollte. Ich hatte zwar ein Gefühl dafür, aber mein Handwerk reichte einfach nicht aus.
Das Gespräch führte Franziska Hirsbrunner.