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Literatur Der Deserteur und die Delfine, der Krieg und der Killerwal

Stefano D’Arrigos grandioses sizilianisches Heimkehrer-Epos «Horcynus Orca» handelt von Fischern und starken Frauen, von Liebe und Tod und immer wieder vom Meer. Nun liegt es in einer faszinierenden deutschen Übersetzung vor.

«Bücher haben ihre Schicksale» – das gilt für «Horcynus Orca» von Stefano D’Arrigo (1919-1992) gleich mehrfach. Vor vierzig Jahren erschienen und von Autoren wie Calvino oder Pasolini hochgerühmt, ging der wegen seiner vielschichtig-eigenwilligen Sprache als unübersetzbar geltende Roman nach dem Tod des Autors beinahe vergessen.

Nun hat der in der Schweiz aufgewachsene Übersetzer Moshe Kahn, der lange in Italien lebte und D’Arrigo persönlich gekannt hatte, eine grossartige deutsche Fassung des 1500 Seiten langen, hochpoetischen Epos erarbeitet.

Abenteuerliche Reise ins Heimatdorf

Schwarz-Weiss-Porträt von Stefano D'Arrigo.
Legende: Stefano D’Arrigo hat zwei Jahrzehnte an seinem Roman gearbeitet. Paola AGOSTI/Opale/StudioX

Das Buch spielt in den ersten Oktobertagen des Jahres 1943 an der Meerenge zu Messina. Nach der Invasion der Alliierten und dem Auseinanderfallen des faschistischen Italiens desertiert der 22-jährige Marinesoldat N’drja (Andrea). Er durchquert das kriegsversehrte Süditalien von Neapel bis zur kalabrischen Küste bei Scilla (Skylla), um von dort seine sizilianische Heimat, das Fischerdorf Chariddi (Charybdis) zu erreichen – allein, alle Boote sind zerstört oder beschlagnahmt.

In stockdunkler Nacht stösst N’drja auf Ciccina Circe (Homers «Odyssee» grüsst), eine kecke Schmugglerin und Angehörige eines matriarchalischen Stammes. Sie bringt ihn rüber nach Sizilien und lässt sich die Fahrt mit deftigen Lustdiensten seitens des knackigen Seemannes entgelten.

Buchhinweis

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Stefano D'Arrigo: «Horcynus Orca.» Aus dem Italienischen von Moshe Kahn. S. Fischer Verlag, 2015.

Der allgegenwärtige Tod

Grotesker Humor, viel Sexus und existentielle Melancholie grundieren dieses, von vielen Rückblenden durchwirkte Buch von Beginn an. Dem allgegenwärtigen Tod, durch Krieg, Hunger und Naturkatastrophen, steht das sinnliche Leben der Fischer und der Delfine gegenüber. Diese werden hier «Feren» genannt – ihrer verspielten Wildheit wegen, mit der sie den Fischern die Netze zerfetzen und die Fische wegfressen.

N’drjas seit langem verwitweter Vater erkennt den heimgekehrten Sohn zunächst nicht (die «Odyssee» grüsst erneut). Erst die Körperprüfung (eine alte Narbe) lassen seine Zweifel schwinden. Dann will der eigenbrötlerische Alte dem Sohn in «zwei Wörtlein» berichten, was ihm in den drei Kriegsjahren widerfuhr – daraus werden 200 Seiten, auf denen der Vater eindringlich erzählt: von der Unbill des Meeres, der Feren und der Zeit; zuallererst aber vom Krieg. Unerbittlich und bildmächtig schildert D‘Arrigo beklemmend grausame Szenen vom Tod des Menschen und vom Zerfall der Natur, der Zivilisation.

Rebellion gegen die Zeitwende

Das Todesmotiv dominiert auch den langen Schlussteil des Epos: Ein alter, schon verwundeter Mörderwal (der titelgebende Orca) sucht die bewegte See zwischen tyrrhenischem und jonischem Meer heim und hält die Fischer in Atem, bis er erlegt ist. Als die Fischer erwägen, seinen Leichnam wie die Walfänger im Norden auszuweiden und damit vom Einzelfischfang zur industriellen Verarbeitung überzugehen, kündet sich eine Zeitenwende an.

Dieser widersetzt sich der Protagonist N’drja. Um Geld für ein neues, traditionelles Fischerboot zu bekommen, sagt er einem Vertreter der alliierten Besatzungsmacht zu, mit einem Dutzend Jungs an einer Ruderregatta in Messina teilzunehmen, bei der ein einheimisches Boot gegen ein englisches und ein amerikanisches antreten soll. Während N’drja trainiert, trifft ihn in der jäh hereinbrechenden Nacht eine von einem britischen Kreuzer abgeschossene Kugel in die Stirn.

Moshe Kahn über ein Mikrofon gebeugt, vom alter gezeichnet.
Legende: Hat das unmöglich Scheinende möglich gemacht: Übersetzer Moshe Kahn. Wikimedia/Goesseln

Poetische Wortneuschöpfungen

So steht am Ende ein absurder Tod neben den zahllosen anderen Toden auf dem unergründlichen Meer. Das Meer ist der eigentliche Romanheld – dessen Rauschen, Schäumen, Tosen, Glucksen, Plätschern, dessen ganze Bewegung und Musik bildet die Sprache D’Arrigos meisterhaft nach.

Dieser Roman, so der kongeniale Übersetzer Moshe Kahn, verlange nach einem Sprachprogramm, das eine Mahler-Sinfonie in Worte zu fassen vermöchte. Solches leistet Kahn für D‘Arrigos Unikat: Mit zahllosen träfen und poetischen Wortneuschöpfungen und raffinierter Genauigkeit entfaltet die Übersetzung eine tiefgründige Fülle, einen überschäumenden Reichtum, eine universelle Vision, so dass «Horcynus Orca» zu Recht den Jahrhundertromanen von James Joyce, Robert Musil oder Marcel Proust an die Seite gestellt wird.

Zum Schicksal dieses Buches gehört auch seine Entstehung. Schon 1961 hatte D‘Arrigo dem Mondadori-Verlag gut 600 Seiten abgeliefert. Als dieser dem Autor umgehend die Druckfahnen zur Korrektur binnen 14 Tagen zusandte, vergingen volle 14 Jahre, bis das im Umfang verdoppelte, sprachlich rundum neugefasste Epos dem Verfasser zur Publikation reif erschien. Das Warten hat sich wahrlich gelohnt.

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