Ein fiktiver Zürcher Bibliothekar gerät auf seltsame Weise in den Besitz einer enorm wertvollen mittelalterlichen Handschrift: das verloren geglaubte Original des Abrogans.
Eine Sensation! Der Abrogans ist ein lateinisch-deutsches Wörterbuch aus dem 8. Jahrhundert, es gilt als das älteste Buch in deutscher Sprache überhaupt. Man kennt es aber lediglich aus leicht jüngeren Abschriften. Eine davon lagert in der Stiftsbibliothek in St. Gallen. Fachleute vermuten, dass der Urtext in einem bayrischen Kloster entstand.
Und nun also taucht das über 1200 Jahre alte Original urplötzlich wieder auf. Dies ist der Ausgangspunkt von Franz Hohlers bezauberndem neuen Roman.
Von der Wahrheitssuche getrieben
Wie aber hat die uralte Handschrift die Jahrhunderte im Verborgenen überdauert? Und weshalb ist sie gerade jetzt ans Tageslicht zurückgekehrt? Diese Fragen lassen den Bibliothekar nicht mehr los. Ja, sie stellen seine unauffällige Existenz kurzzeitig auf den Kopf.
Er scheint nämlich regelrecht behext zu sein vom Rätsel, das den Abrogans und sein jähes Wiederauftauchen umgibt: Der Mann stellt Nachforschungen an. Im Geheimen.
Denn offenbar sind dunkle Kräfte hinter der Handschrift her. Der Bibliothekar vertuscht sein Tun vor Ehefrau und Arbeitskollegen und verstrickt sich zunehmend in seine Lügen und Halbwahrheiten.
Warum tun sie, was sie tun?
Was treibt ihn an, diesen gutbürgerlichen Berufsmann, dass er Dinge tut, die man zuletzt einem Biedermann wie ihm zutrauen würde? Wenn schon, eher einem tollkühnen Jugendlichen?
Dass er etwa bar jeden Verantwortungsgefühls auf gefährlichen Wegen ins Hochgebirge aufsteigt, weil er in einer abgelegenen Berghütte Antworten auf seine Fragen vermutet?
Franz Hohler lässt die tieferen Beweggründe seiner Figuren offen. Er beschränkt sich darauf zu erzählen, wie sie handeln.
Erzählerische Kniffs
Dies aber macht der Autor mit einer einnehmenden sprachlichen Präzision, sodass man der Story gerne folgt. Der Erzählfluss ist ebenso schnörkellos wie unaufgeregt. Und der Roman gerät auf diese Weise zu einer poetischen Hommage an das von der Digitalisierung bedrohte Medium Buch.
Immer wieder aber überrascht Hohler auch mit erzählerischen Kniffs: Etwa als der Bibliothekar plötzlich Spuren das Abrogans entdeckt, die in den Zweiten Weltkrieg in Italien zurückführen. Da mischt plötzlich eine grotesk-übersinnliche Erscheinung mit, die nachher wieder spurlos verschwindet.
Fabulierfreude
Ein besonderer Reiz des Romans besteht darin, dass es immer wieder Rückblenden ins 8. Jahrhundert gibt: Wir sind dabei, wie ein jugendlicher Klosternovize in einem bayrischen Kloster den Original-Abrogans verfasst.
Und welche Ironie: Der Junge schreibt das im 21. Jahrhundert so heiss begehrte Buch keinesfalls freiwillig. Er muss es vielmehr auf Geheiss des Abts tun, weil er das Bildnis einer Frau – seiner Geliebten – auf sich getragen hat. Das geht natürlich gar nicht, wenn man Mönch werden will.
Der Beginn der deutschsprachigen Literaturgeschichte entpuppt sich als Strafaufgabe! Hier wie an anderen Stellen des Romans schlägt der fabulierfreudige Kabarettist Franz Hohler durch.
Vergnüglicher Lesegenuss
Zweifelsohne hätte dem «Päckchen» ein etwas schnelleres Erzähltempo oder – noch besser – der eine oder andere Tempowechsel gutgetan.
Auch hätte man sich statt des gewählten symbolschwangeren Schlusses des Romans gerne nochmals eine jener grotesk-schrägen Pointen gewünscht, die Franz Hohler so trefflich beherrscht.
Kluge Unterhaltung in einer feinsinnigen Sprache und damit vergnüglichen Lesegenuss bietet der neue Roman jedoch allemal.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, 52 Beste Bücher, 10.9.2017, 11.03 Uhr