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Literatur Die Millennium-Fortsetzung: Grabschändung oder Würdigung?

«Das grösste literarische Verbrechen des Jahres» oder «Die einmalige Chance, ein Genie zu würdigen»: «Verschwörung», die Fortsetzung von Stieg Larssons Millennium-Trilogie, erhitzte lange vor Erscheinen die Gemüter. Jetzt ist das Buch da – und reiht sich nahtlos in die Kultserie ein.

Der von vielen erwartete – und vielleicht sogar erhoffte – Flop ist «Verschwörung» nicht geworden. Beurteilt man das Buch einmal isoliert von allen moralischen Bedenken, muss man dem angeheuerten Autor David Lagercrantz zugutehalten: Sein Roman ist gut.

Aus vielen Kandidaten haben Stieg Larssons Erben – der Vater und der Bruder des 2004 verstorbenen Autors – den ehemaligen Journalisten für die Fortsetzungsgeschichte ausgewählt.

David Lagercrantz ist in Schweden kein Unbekannter. Vor allem seine Biografie über den Weltfussballer Zlatan Ibrahimovic erreichte dort eine Rekordauflage. 2013 begann Lagercrantz mit dem Manuskript des vierten Millennium-Bandes. Ende letzten Jahres hatte er «Verschwörung» abgeschlossen; und es ist den Verantwortlichen tatsächlich gelungen, den Text bis zur Publikation geheim zu halten.

Behutsam die Fäden weitergesponnen

David Lagercrantz beherrscht zweifellos das Handwerk des Thriller-Schreibens: Er hat für «Verschwörung» einen brisanten, topaktuellen Plot erfunden, treibt die Story rasant vorwärts, verwendet eine solide Sprache und hält das Publikum bis zum Schluss bei der Stange.

Sicher ist seine Geschichte weniger komplex und abgründig als bei Stieg Larsson. Er verzichtet auch auf exzessive Gewaltszenen, wie man sie im Original oft fand. Aber er schafft es, die Brücke zur Vorlage immer wieder zu bauen – unaufdringlich; einfach indem er häppchenweise Informationen aus den früheren Bänden einschleust und den Lesenden so behutsam in die «Millennium»-Welt zurückführt und Fäden von damals in seiner neuen Fassung weiterspinnt.

Die Spur führt zur NSA

Am meisten gespannt war man im Vorfeld, ob David Lagercrantz die Wiederbelebung der beiden Kultfiguren Mikael Blomkvist und Lisbeth Salander gelingen würde. Diese Klippe hat er ebenfalls geschafft. Lagercrantz bleibt sehr nahe am Original, entwickelt es aber zum Teil auch weiter: Starreporter Mikael Blomkvist zum Beispiel steckt hier beruflich in einer tiefen Krise.

In dieser Situation tritt ein genialer Wissenschaftler – Experte für künstliche Intelligenz – an Mikael heran mit dem Versprechen, ihm eine brisante Geschichte zu verraten. Aber fünf Minuten bevor das Treffen stattfindet, wird der Forscher erschossen und dessen Computer mit den brisanten Daten geklaut.

Salander bleibt unnahbar und rätselhaft

Mikael beginnt auf eigene Faust zu recherchieren. Die Spuren führen in die Untiefen des World Wide Web und bis ins Innerste des amerikanischen Nachrichtendienstes NSA. Es geht um Werkspionage, Datenklau und um den Verdacht, dass die Schuldigen einmal mehr ganz oben im Machtgefüge sitzen. Da Mikael Blomkvist sich in der Computerwelt wenig auskennt, sucht er Hilfe bei Lisbeth Salander.

Die legendäre Meister-Hackerin mit frecher Punkfrisur, Tattoos und Piercings bleibt bei David Lagercrantz die unnahbare, rätselhafte und widersprüchliche Frau, wie wir sie aus den Büchern von Stieg Larsson kennen. Sie unterstützt zwar Mikael bei seinen Recherchen, lässt sich aber kaum in die Karten schauen. Sie hat ihre eigenen Motive, warum sie sich an der Suche nach dem Mörder beteiligt.

Larssons Verdienst bleibt unbestritten

Krimi-Superstar Jussi Adler Olsen rief öffentlich zum Boykott von «Verschwörung» auf. Diese Kommerzialisierung sei nicht im Sinne von Stieg Larsson: «Damit nutzt man einen Mann aus, der Ausnutzung hasste», schrieb er in einer skandinavischen Tageszeitung. Diese Meinung teilen viele, auch wenn die Erben versprechen, den Erlös aus diesem vierten Band wohltätigen Zwecken zuzuführen.

Was Stieg Larsson tatsächlich zur Wiederbelebung von Lisbeth Salander & Co. meinen würde, bleibt Spekulation. In der Literaturgeschichte haben sich immer wieder legendäre Figuren verselbständigt und sind in Geschichten von anderen Autoren wieder aufgetaucht: seien das Sherlock Holmes, Philipp Marlowe oder James Bond. Längst nicht alle Kopien konnten überzeugen. Dem Image ihrer Erfinder schadete das aber nicht – im Gegenteil.

Das wird wohl auch im Fall von Stieg Larsson so sein: Er ist und bleibt einmalig. Sein Verdienst als Erneurer des modernen Kriminalromans ist unbestritten. Egal, ob ein fünfter, sechster oder siebter Band seiner Millennium-Trilogie geschrieben wird.

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