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Diversität in der Literatur Queeres Lesen lohnt

Immer mehr queere Autoren feiern Erfolge – auch Kris Schneeberger. Er erklärt, weshalb es für seine Literatur lange keinen Platz gab.

«Ich habe das Gefühl, angekommen zu sein», sagt Kris Schneeberger und blickt aus dem Fenster seines Ateliers auf den Gurten. «In Bern kann ich mit lackierten Nägeln auf der Strasse herumlaufen, ohne dass jemand dumm guckt.»

Seit vier Jahren lebt Schneeberger in dem Kanton, in dem sein Grossvater einst als Verdingbub arbeiten musste. Er ist selbst überrascht, wie gut es ihm dort gefällt – besser als in Zürich oder L. A., wo er zeitweise wohnte.

Geschichte einer obdachlosen Drag Queen

Angekommen ist der Wahlberner auch in anderer Hinsicht: Letzten Herbst erschien sein Debüt «Neon Pink & Blue». Die Geschichte über eine obdachlose Zürcher Drag Queen auf der Suche nach der eigenen Identität avancierte schnell zum Geheimtipp.
Anfang 2021 wurde er dafür mit einem der Schweizer Literaturpreise ausgezeichnet.

Mann kniet in seinem Atelier
Legende: Dass er sich in Bern niederlässt, hätte er selbst nie gedacht. Kris Schneeberger in seinem Atelier-Wohnzimmer. Florian Oegerli


Schneeberger ist froh, dass er sich für den Roman ganze 15 Jahre Zeit gelassen hat. Er ist sich sicher: Früher hätte er damit weit weniger Publikum erreicht. «Vor zehn, fünfzehn Jahren gab es nur Platz für einige Exotinnen und Exoten, die Fernseh-Lesbe oder den Tagesschau-Gay», so Schneeberger. Waren diese Posten besetzt, brauchte man es nicht mehr zu versuchen.

Kritik am Lebensstil, statt an Literatur

Der Autor, der selbst als Drag Queen auf der Bühne steht, weiss wovon er spricht: Als er in den Neunzigern seine Prosa in Zürich einer Jury aus älteren Schriftstellern präsentierte, kritisierten die seinen Lebensstil, anstatt auf die Texte einzugehen.

Früh engagierte sich Schneeberger gegen Missstände. Als Gymnasiast leitete er Workshops, um Jugendliche für Diskriminierungen zu sensibilisieren. Später setzte er sich für bosnische Flüchtlinge ein.

Er, sie, mensch

In «Neon Pink & Blue» sind all diese Erfahrungen mit eingeflossen. Die Geschichte wird in indirekter Rede erzählt. Dabei werden die Personalpronomen, mit denen die Hauptfigur bezeichnet wird, ständig gewechselt – von es über sie hin zu mensch .

Diese Form spiegle die Lebensrealität vieler Menschen, die sich in den Identitätsangeboten der Gesellschaft nicht wiederfinden, so Schneeberger.

«Erst wenn du dich wehrst, wirst du gesehen»

«Literatur schafft es, Bilder für Erfahrungen zu finden, die vorher nicht sichtbar waren», erklärt er. Etwa dafür, sich weder eindeutig männlich noch weiblich zu fühlen. Aber auch für die Kindheit seines Grossvaters.

Vor dem Film «Der Verdingbub» hätten ihm viele Menschen dessen Geschichte nicht geglaubt. Früh habe er gelernt: «Erst wenn du dich wehrst, wirst du gesehen.»

Die Angst vor der Schublade

Gleichzeitig weiss der Autor um die Tücken dieser Strategie: «Wenn du zu deiner Identität stehst, besteht immer die Gefahr, dass man dich in eine Schublade steckt.» Deshalb hätte er zuerst befürchtet, dass «Neon Pink & Blue» als reine «Schwulenliteratur» gesehen würde – das sei zum Glück nicht passiert.

Buchhinweis

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Christoph Schneeberger: «Neon Pink & Blue». Verlag die Brotsuppe, 2020.

Der Schriftsteller begrüsst, dass die queere Literatur in den letzten Jahren stärker präsent war. Zugleich wünscht er sich, dass auch nicht-queere Menschen häufiger dazu greifen.

«Weil sie nicht diskriminiert werden, hinterfragen zum Beispiel viele heterosexuelle Männer die eigenen Muster nicht – und bleiben darin gefangen», sagt Schneeberger. Queere Literatur könne hier helfen.

Schneeberger selbst hat der Erfolg von «Neon Pink & Blue» beflügelt: Inzwischen arbeitet er am nächsten Projekt, einem Krimi. Der soll dieses Mal schneller fertig werden. «15 Monate statt 15 Jahren wären das Ziel», schmunzelt er.

Queer lesen als Methode

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Im Alltagsgebrauch wird Queer oft als Synonym für LGBT* (lesbisch, schwul, bisexuell, transgender und andere Geschlechtsidentitäten) verwendet. In der Wissenschaft aber fasst man den Begriff weiter. Dort dient er als Kritikinstrument für alle Arten von sexuellen Identitätskonzepten, auch die der Homo- und Heterosexualität.

Die Literaturwissenschaftlerin Katja Kauer schlägt daher auch für Texte, die als heterosexuell gelten, die Methode des queeren Lesens vor. Für sie gibt es keine nicht-queere Literatur. Denn auch in Texten, die als heterosexuell gelten, finden sich andere als nur normative Strukturen.

Mit queerem Blick Tolstoi lesen

Zum Beispiel entwickelt sich in Lew Tolstois «Anna Karenina» (1877/78) zwischen den Hauptfiguren Anna und Kitty eine homosoziale Beziehung. Wegen unseres heteronormativen Blicks wurden solche Beziehungen lange Zeit übersehen.

Doch nicht alle Romane, die das Label Queer tragen, sind es auch, betont Katja Kauer. In «Mädchen für alles» von Charlotte Roche beispielsweise beginnt die Hausfrau Chrissi eine Affäre mit der Babysitterin. Dies macht sie jedoch nur, um ihren Ehemann zu ärgern. Einen normkritischen Anspruch hat die homosexuelle Beziehung dort nicht.

Katja Kauer: «Queer lesen». Narr Francke Attempto Verlag, 2019.

Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 2.3.2021, 17:58 Uhr

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