«Heute finde ich heraus, wie es um mich steht», sagt der Mann. Er setzt sich den Revolver an die Schläfe. 38er Kaliber. Es ist nur eine Kugel in der Trommel. Russisches Roulette. Der Mann drückt ab. Es knallt.
Hans Platzgumer mag solche starken Bilder. Menschliche Abgründe faszinieren ihn. Immer wieder greift er in seinen Romanen die Grundfragen der menschlichen Existenz auf: den Sinn des Lebens, die Verantwortlichkeit des Menschen für sein Tun, den Tod.
So auch in seinem neusten Roman «Drei Sekunden Jetzt». Der Russisch-Roulette-Spieler dient dem Autor als prototypische Illustration des Menschen an sich, der ungefragt in die Welt geworfen ist, ohne dass ein Sinn erkennbar wäre.
Wie Sisyphos in der Endlosschlaufe
Im Russisch Roulette lässt der Mann den Zufall – oder ist es das Schicksal? – darüber entscheiden, ob die sinnentleerte Öde seines Daseins nun zu Ende geht. Oder bleibt er am Leben und ist dazu verdammt, die Verantwortung für sein bislang kümmerliches Leben selbst zu übernehmen?
In der Episode mit dem Russisch-Roulette-Spieler verdichtet Platzgumer das Denken von Existenzphilosophen wie Sartre oder Camus: Der Mensch gerät in einen Grundkonflikt, wenn er die offenkundige Sinnlosigkeit seines Daseins nicht länger verdrängen will.
Wie kann man glücklich sein, wenn man sich fühlt wie Sisyphos? Jener war dazu verurteilt, einen Felsblock ewig einen Berg hinaufzuwälzen. Im Wissen darum, dass der Stein jedes Mal wieder zu Tal rollen wird.
Keine Vorstellung von der Zukunft
Im Zentrum des philosophisch-tiefsinnigen Romans von Hans Platzgumer steht jedoch nicht der Russisch-Roulette-Spieler, sondern ein mittlerweile erwachsenes Findelkind: François. An ihm spielt der Autor durch, was es bedeutet Auge in Auge zu leben mit der Verlorenheit in einer als sinnentleert empfundenen Welt.
François ist ein junger Mann und lebt in Marseille. Als Baby liess ihn seine Mutter in einem Einkaufszentrum zurück. Nun schlägt er sich durchs Leben. Mehr schlecht als recht.
Er hat keine Vorstellung von seiner Zukunft. Nicht die Spur einer Idee, null Konzept. François ist ein weisses Blatt Papier, blütenweiss. Und eben diese Freiheit überfordert ihn vollständig.
Zu kalt zum Stehen, zu kalt zum Gehen
François vertraut niemandem. Am wenigsten sich selbst. «Niemandem kann ein Mensch mehr als seiner eigenen Mutter vertrauen», sagt er, «und meine ist im gleissenden Tageslicht verschwunden.» François lässt sich treiben. Er, das Findelkind, ist ja einer, der immer irgendwie gefunden wurde, sagt er sich. Ein «Findling» eben.
Er rutscht ins kriminelle Milieu. Dann lässt er sich von einer vermeintlich grossen Liebe täuschen. Die Zerstörung ist total. François verliert das letzte Quäntchen Zuversicht – und auch sein letztes Geld. Er landet in der Gosse.
Die Schilderungen des Lebens als Obdachloser draussen in der Kälte sind mitunter die stärksten Passagen in diesem packenden Buch: «Ich kann nicht mehr. Zu kalt und zu stürmisch ist es, um sich zu bewegen, zu kalt und zu stürmisch, um stehen zu bleiben. Ich murmle, stammle, rufe irgendetwas vor mich hin, in der Hoffnung, es möge mich warm halten.»
Das Glück stellt sich einfach ein
Am Ende kriegt François die Kurve dann aber doch noch. Wie genau, erfährt man nicht. Es geschieht einfach. Per Zufall? Genaueres steht nicht im Buch – leider. Man hätte sich etwas mehr Informationen gewünscht, wie es der Verlorene schafft, den gesuchten Halt und die ersehnte Geborgenheit plötzlich doch noch zu finden.
Sie stellt sich im Roman einfach ein: François zieht wieder bei seiner Pflegemutter ein. Er geht einer geregelten Arbeit nach und abends trinkt er mit der Pflegemutter gemütlich ein Glas Wein. In ruhigen Minuten schafft er sich kraft der Fantasie eigene Welten, die jenseits der einschläfernden Gegenwart im Jammertal Erde liegen.
Zuletzt ist es also die Imagination und damit eine der wundervollsten Eigenschaften des Menschen selbst, welche diesem den Weg aus dem Jammertal weist. Und wir erkennen: Das Findelkind François alias Sisyphos trägt den Schlüssel zum Glück in der eigenen Hosentasche.