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Dystopie im Jahr 2119 «Was wir wissen können»: So düster sieht Ian McEwan die Zukunft

Der neue Roman des britischen Star-Autors Ian McEwan spielt im Jahr 2119 – und nimmt uns mit auf eine Schatzsuche.

Ian Mc Ewan ist 77 Jahre alt. Seine Erzähllust ist ungebrochen. Auch mit seinem neuen Roman legt er ein komplexes, tiefgründiges und nicht zuletzt spannendes Werk vor.

«Was wir wissen können» ist eine Dystopie, die im 22. Jahrhundert spielt: Nach Tsunamis, Kriegen, Krankheiten und Hungersnöten hat sich die Weltbevölkerung von heute über acht auf knapp vier Milliarden Menschen halbiert.

Düsteres Zukunftsszenario

Länder wie Deutschland gehören zum Grossrussischen Reich. Die Vereinigten Staaten sind durch Bürgerkriege zerfallen; ihre einstige Stärke ist passé. London, Paris und New York wurden überflutet.

Verlassene Stadt bei Regen mit zerfallenen Gebäuden.
Legende: So oder so ähnliche kann man sich das Setting in «Was wir wissen können» vorstellen: Wie ein Szenenbild aus «I Am Legend» oder «The Day After Tomorrow» – eine Welt nach der Katastrophe. (Digital erzeugtes Symbolbild) Getty Images/Bulgac

Unbewohnbar sind die einstigen Metropolen inzwischen. Und Grossbritannien, ebenfalls vom Anstieg des Meeresspiegels betroffen, besteht nur noch aus vielen kleinen Inseln. Eine Archipel-Republik, in der es mühsam ist, von einer Insel zur anderen gelangen.

Angesichts der heutigen Krisen ist das Zukunftsbild, das Ian McEwan zeichnet, nicht allzu originell. Aber realistisch.

Ungläubiger Blick ins Heute

In die beschriebene Zeit, in dieses beschwerliche 22. Jahrhundert, pflanzt Ian McEwan seine Hauptfigur: den Literaturwissenschaftler Thomas Metcalfe. Ungläubig blickt dieser auf die verschwenderische Lebensweise vor gut 100 Jahren zurück – also in unsere heutige Zeit.

Uralte Wälder abholzen für Papier, mit dem sie sich den Hintern abputzten.
Autor: Auszug aus dem Roman

So heisst es im Roman etwa über die «morbide Gier» der Menschen im 21. Jahrhundert: «Für eine Woche Urlaub dreitausend Kilometer fliegen; Hochhäuser, die an Wolken kratzten; uralte Wälder abholzen für Papier, mit dem sie sich den Hintern abputzten.»

Alter Mann mit grauen Haaren und Brille
Legende: Ian McEwan, geboren 1948 in Aldershot, England, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern der Gegenwart. Geschrieben hat er beispielsweise die Bestseller «Abbitte», «Der Zementgarten» oder «Saturday». Annalena McAfee

Zudem stellt die Hauptfigur fest: Man habe einfach zugesehen, «wie Jahrzehnte verstrichen, während die Disruption an Tempo gewann, die Zahl der Waffen sich vervielfältigte, und sie taten wenig dagegen, auch nicht, als sie wussten, was auf sie zukam und was nötig wäre».

Verantwortungslose Vorfahren

Um die Hauptfigur Metcalfe herum blicken alle mit Wut auf die Menschen im 21. Jahrhundert: Sie rissen die Welt von einer Misere in die nächste, so die Haltung.

Thomas Metcalfe selbst ist gnädiger. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der Literatur der Jahre 1990 bis 2030. Er ist fasziniert von jener Zeit, von Erfindungen wie dem Internet oder Entdeckungen wie der Entschlüsselung des menschlichen Genoms. In Sachen «Literatur» interessiert ihn besonders ein (fiktiver) Dichter namens Francis Blundy.

Auf der Suche nach dem Schatz

Blundy hat im Jahr 2014 seiner Frau ein besonderes Gedicht gewidmet, einen Sonettenkranz. Das Gedicht gilt als verschollen. Literaturwissenschaftler Metcalfe vermutet ein Meisterwerk – und begibt sich auf die Suche danach.

Und so wird «Was wir wissen können» zu einer Schnitzeljagd in die Vergangenheit, die bisweilen an Robert Louis Stevensons berühmten Abenteuerroman «Die Schatzinsel» erinnert. Der Schatz hier: das Gedicht.

Was Metcalfe schliesslich findet, ist allerdings etwas ganz anderes als erwartet. Denn Ian McEwan beherrscht die überraschenden Wendungen, die dann auch über ein paar Längen im ersten Teil des Buchs hinwegtrösten, noch immer perfekt. McEwan zeigt einmal mehr, was für ein versierter Erzähler er ist. Und er ruft uns in Erinnerung, dass wir den Menschen der Zukunft auch eine Zukunft schulden.

Buchhinweis

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Ian McEwan: «Was wir wissen können». Aus dem Englischen von Bernhard Robben. 480 Seiten. Diogenes, 2025.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 29.9.2025, 17:10 Uhr

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