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Literatur Ein Altersrebell ruft zum Widerstand

«Ungeduldig bin ich gerne, denn Geduld ist eine grosse Gefahr», sagt Stéphane Hessel. Gegen Umweltzerstörung, Turbokapitalismus und Ungerechtigkeit will er den Widerstand ermutigen. Damit artikuliert er eine weltweit verbreitete Unzufriedenheit. Ein Porträt eines 95jährigen Rebellen.

Seine Flugschriften tragen Titel wie «Engagiert euch!» oder «Empört Euch!», und sie erreichen Millionenauflagen quer durch die Welt. Seine Zürcher Rede «An die Empörten dieser Erde» erscheint dieser Tage in Südkorea. Wo er redet, sind die Säle brechend voll. Er ist zum Schutzengel der Unzufriedenen geworden.

Buchhinweis

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Stéhane Hessel: An die Empörten dieser Erde! Vom Protest zum Handeln. Hessels Zürcher Rede und ein Gespräch mit dem Herausgeber Roland Merk. Aufbau Verlag, 2012.

Das hat Gründe: Sein Vater, der Schriftsteller Franz Hessel, war jüdischer Abstammung. Seine Mutter, Helen Grond, wurde im Milieu der Pariser Avantgarde der 20er und 30er Jahre die blitzgescheite, berühmte «Aphrodite» (so der Sohn in seinen Memoiren). Auf einem Foto von Man Ray ist sie nackt am Strand zu bewundern. 

Konzentrationslager überlebt

Der junge Stéphane Hessel, 1917 in Berlin geboren und als siebenjähriger mit seiner Familie nach Paris gekommen, engagierte sich in der französischen Resistance auf der Seite von General de Gaulle gegen den Nationalsozialismus und für die Befreiung Frankreichs. Er wurde verraten, von der Gestapo verhaftet, verhört und gefoltert. Er überlebte mehrere Konzentrationslager, riskierte zweimal die Flucht und entkam mit knapper Not seiner Hinrichtung.

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Stéphane Hessel über Demokratie im Betrieb
02:47 min
abspielen. Laufzeit 2 Minuten 47 Sekunden.

Nach dem Krieg wurde Hessel Diplomat. Unter anderem war er Botschafter Frankreichs bei den Vereinten Nationen in Genf. Er ist Mitverfasser der Erklärung der universellen Menschenrechte von 1948 und arbeitete später vor allem in der Nord-Süd-Politik. Früh trat er für die Unabhängigkeit Algeriens ein. Im Jahre 2009 reiste er zum fünften Mal in den Gazastreifen, was seine Kritik der israelischen Besatzungs- und Siedlungspolitik vertiefte.

Mitte 90 und ein echter «militant»

Stephane Hessel sieht heute das Erbe der Resistance bedroht. Die Werte, für die er und seine Kameraden ihr Leben riskiert hätten, seien in Frage gestellt «bis zur echten Gefährdung», sagt er, und dies ist auch der Grund für seine Altersunruhe und seine politischen Aktivitäten.

Er kämpft im Kreise alter Résistancemitglieder und in der entwicklungspolitischen Organisation «Agrisud». Er unterstützt die französischen Sozialisten und «Europe Ecologie», er schreibt Appelle gegen israelische Militärschläge («Dass Juden Kriegsverbrechen begehen können, ist unerträglich»), er setzt sich ein für die Obdachlosen, für eine «gouvernance mondiale» – kurzum, er ist Mitte 90 und ein echter «militant».  

Hessel adelt den Protest

Stéphane Hessel vor zwei seiner spanischen Buchumschläge.
Legende: Auch ins Spanische übersetzt: Stéphane Hessel. Keystone

Hessels Welterfolg – darum handelt es sich – könnte ein Ausdruck dafür sein, dass er eine ebenfalls weltweit verbreitete Unzufriedenheit artikuliert. Das wäre die optimistische Sicht.

Pessimisten könnten sagen: Seine Bücher und Veranstaltungen schaffen ein wohliges Gemeinschaftsgefühl, wirken als Entlastung und bleiben ebenso folgenlos wie das gemeinsame Lästern in abendlichen Kneipen. Unbestreitbar scheint mir indes, dass er den Protest adelt.

Ein Kämpfer in eleganter Erscheinung

Hessel legitimiert den Protest mit den Leiden des Resistancekämpfers und den Erfahrungen des Diplomaten. Er verkörpert als weise Vaterfigur die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, und er holt den Protest aus der radikalen Ecke der schwarzen Blöcke heraus durch seine elegante Erscheinung: Vom Habitus her ganz Diplomat und Bildungsbürger, zeigt er in gepflegter Sprache, wie selbstverständlich, schön und attraktiv Opposition sein kann.

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Felix Schneider über Stéphane Hessel: «Schönheit der Kunst als politische Kraftquelle»
03:44 min
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Dass seine Interventionen einen manchmal geradezu naiven moralischen Überhang haben, mag Politstrategen stören – vielleicht passt das aber ins 21. Jahrhundert, in dem Menschen mit ganz untaktischen Forderungen wie «Demokratie» oder «Menschenrechte» so viel ausrichten können wie die Demonstranten auf dem Tahrirplatz.

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