2007 ist die deutsche Reporterin und Romanautorin Angelika Overath mit ihrer Familie nach Sent gezogen. Hier, auf 1440 Metern, hat sie ein Tagebuch begonnen. Als «Alle Farben des Schnees» 2011 erschien, war die Kritik begeistert. Von einer Dorfchronik, einer Landvermessung, einem «poetischen Wetterbericht» war die Rede.
Was macht der schwindende Schnee mit dem Bündner Bergort? Für SRF hat Angelika Overath ihr Senter Tagebuch fortgesetzt.
Montag, 13. Februar 2023: Der Schnee ist nicht gekommen. Das letzte Mal hat es am 5. Februar geschneit, und auch da nur wenige Zentimeter. Schwarzeis auf dem Silsersee. Normalerweise würden Franziska und ich heute an ihrem freien Nachmittag dort Langlaufen gehen. Einkehren in Isola. Im Abendlicht zurück. Und man gleitet im Kranz der weissen Berge durch einen Farbkasten, der Himmel in Rosa, Gold, Türkis, die Schneefläche des Sees ein glitzerndes Aquarell. Ich werde Franziska im Bogn Engiadina treffen. Sauna, Schwimmen.
Die Nachbarin sagt, sie habe das Zimmer voller Fliegen.
Donnerstag, 16. Februar: Im Dorf sind wir alle unruhig. Schneenervosität. Die Sonne scheint. Der Himmel ist stahlblau, wolkenlos. Das ist schön. Und das irritiert. Die 11 Kilometer lange Abfahrt, die «Traumpiste» von Salaniva (2710 m) nach Sent (1440 m), ist im unteren Teil präpariert. Aber man sollte sie vor dem Mittag fahren, und auch dann gibt es schon offene Stellen, an denen Steine und Erde durchkommen. Wie lange werden sie diese Strecke halten können?
Die plötzliche Kraft der Sonne, wie im Frühling. Die Wespen kommen ins Haus. Die Nachbarin, die etwas höher in der Nähe der Ställe wohnt, sagt, sie habe das ganze Zimmer voller Fliegen.
Im Schatten ist der Schnee auf den Dächern samtig, in der Sonne wie lackiert. Die Luft ist rein, der Schnee noch weiss, aber er hat Konturen eines Altseins; abgerutschte Flächen bilden Wellen, kantige Einbuchtungen, manchmal, wenn die Dächer steiler sind, auch Risse.
Den täglichen Wintersportbericht bekomme ich als Mail: Schneehöhe auf der Motta 39 cm. 46 Prozent der Pisten werden beschneit. Temperaturen zwischen 4 und minus 2 Grad.
Freitag, 17. Februar: Der Schnee ist die Zeit des Friedhofs. Dann liegen die Gräber unter der weissen Decke. Sie schlafen. Ab und an schaut ein Stück Stein hervor, mit einem Stern. Oder von der Schulter eines Engels schmilzt es. Immer wieder habe ich auf dem Senter Friedhof fotografiert.
Es gibt die Gräber der Einheimischen, einfache Steine, ausgesucht in den Bergen, auf denen oft nur der Name des Toten steht, und neben ihnen die glänzenden Marmorgrabstätten der Randulins, der «Zuckerbäcker», die einst als Wirtschaftsemigranten in Italien ihr Glück machten und zu Hause begraben sein wollten. Auf ihre Initiative geht der Friedhof zurück. Der alte Friedhof neben der Kirche wurde zu klein.
Eindrücke vom Senter Friedhof
Vor dem Friedhof treffe ich Maria mit dem Hund an der Leine. Ich war verreist, habe erst spät vom Tod ihres Mannes erfahren. Wir setzen uns auf die Bank. Ob er leicht gestorben sei? Sie lächelt. Sehr. Sie hatten das auch besprochen. Es sei schon erstaunlich gewesen, wie er das Glas ausgetrunken habe und wusste, dass er in drei Minuten tot sein würde.
Der Himmel ein geschecktes Lammfell.
«Und dann haben wir mit einem Schnäpsle noch einmal ‹Viva› gemacht.» Wie? «Ja, nachdem er das Zeug getrunken hatte. Mit einem Schnäpsle.» Und er habe sich zurückgelehnt und entspannt. «Er wuchs.» Er wuchs? Ja, er sei doch am Schluss immer verkrampft gewesen, in sich versunken. «Und nun wuchs er. Ich wusste gar nicht, was für einen grossen Mann ich habe.»
Samstag, 18. Februar: Laut Wintersportbericht sind die Temperaturen auf der Motta um null Grad und auch wärmer. Schneehöhe 38 cm.
Ferdinand, der Sohn von Nana aus Basel, und seine Freundin Laura sind seit gestern da. Ein Wochenende Skifahren. Am Abend kommen sie glücklich und mit roten Wangen zurück. Wir essen Raclette. Die Pisten seien gut präpariert. Und die Traumpiste? Sie nicken. Man habe schon ein wenig aufpassen müssen, aber nein, nicht abschnallen! Und man sei auch nie gezwungen gewesen, über Dreck zu fahren.
Mittwoch, 22. Februar: Der Himmel ein geschecktes Lammfell. Graue Wolkenflecken, umflimmert von einer schmalen Aura aus Licht. Dazwischen kleine, hellblaue Löcher. Das Ganze auch wattig. Schneehimmel?
Die Sentabfahrt ist noch offen. Schneehöhe auf der Motta Naluns: 34 cm.
Im «Piz»-Magazin lese ich, dass die Bergbahnen Scuol ein «GPS- und computergestütztes Snow-Management» betreiben. Mit modernen Pistenfahrzeugen kann die jeweilige Schneehöhe des Untergrunds genau bestimmt werden, das erlaubt ein gezieltes Beschneien. Im Magazin ist von «technischem Schnee» die Rede.
Donnerstag, 23. Februar: Im Netz sehe ich, dass die drei wunderbaren Seeloipen geschlossen sind. Wird dies der ersten Winter sein, in dem ich nicht mit Franziska auf Langlaufskiern über den See fahre?
Franziska hat die Langlaufskier im Auto, ich habe meine nicht dabei. Wir finden beide, dass wir es richtig gemacht haben: Sie skatet, und das wäre auf dem leicht mit Schnee bezuckerten, einst präparierten Loipenstück auf dem See möglich. Ich fahre klassisch und sehe, zumindest auf dem See, keine Loipenspuren.
Vereinzelt im Dunst sehen wir Langläufer, langbeinige Insekten.
Wir gehen nebeneinanderher nach Isola. Immer wieder kommt die Sonne hervor. Eingewickelt in Decken essen wir Apfelkuchen auf der Restaurantterrasse. Den Glühwein trinken wir langsam, damit er unsere Hände noch wärmen kann. Vor der Silhouette der weiss-grau schraffierten Berge lässt ein Junge einen roten Drachen steigen.
Dann kommt der Nebel. «Malojaschlange», sagt Franziska. Auf einmal wird es sehr kalt. Auf dem Rückweg alles nun nebelweiss. Eine kleine Bauminsel im See taucht auf wie eine Kulisse. Vereinzelt im Dunst sehen wir Langläufer als elegante Schemen, langbeinige Insekten.
In Sils Baselgia ist das Robbi-Museum noch offen. Die Ausstellung «Alpenfliessen» widmet sich den Veränderungen der Landschaft. Auf Fotografien sehen wir, wie sich die Gletscherzunge des Morteratschgletschers zurückzieht. Das haben wir auch mit eigenen Augen gesehen.
Forscher vermuten, dass es im Universum keine zwei Schneeflocken gibt, die identisch sind.
In einer Vitrine liegen frühe Glasdiapositive (um 1900) von Eiskristallen, Schneekristallen, Hagelkörnern. Filigrane Wunder, mal an Sterne erinnernd, mal an Splitter, dann wieder an Blätter, ja an Quallen. Forscher vermuten, dass es im Universum keine zwei Schneeflocken gibt, die identisch sind. Wasser kondensiert an Partikeln in der Luft. H2O sucht sich Moleküle, die zu ihm passen. In der Kälte entwickeln sich dann, Molekül für Molekül, Schneeflockenkristalle. Es schneit.
Über das Nachbardach zieht sich ein gewelltes Restschneeband wie ein Zitat.
Kunstschnee hat mit Schnee im Grunde nichts zu tun. Um künstlichen Schnee herzustellen, wird Wasser in einem Luftstrom unter Druck abgekühlt; auf diese Weise entstehen keine Schneekristalle, sondern Eispartikel. Kunstschnee hat eine viel höhere Dichte als Naturschnee. Deshalb schmilzt er langsamer. Unter der festen Decke des «technischen Schnees» ringen Gräser und Blumen lange, bevor es ihnen gelingt, durchzubrechen.
Samstag, 25. Februar: Gestern Abend ist Nana aus Basel gekommen. Zum Skifahren. Am Morgen Nebel. Keine Berge zu sehen. Gegen 8:30 Uhr klart es etwas auf. Es schneit leise in die morgendlichen Strahlen hinein. Am Himmel zeigen sich immer wieder Felder von Blau. Dann verdichtet sich das Grau erneut. Schlieren, Sonnenspiele.
Nana nimmt den Bus um 9:11 Uhr hinunter nach Scuol zur Gondel. Die Talabfahrt nach Sent ist noch offen. Schneehöhe auf der Motta: 30 cm. Auf dem Nachbardach, das nach Osten zeigt, liegt kein Schnee mehr. Über das Nachbardach, das nach Norden weist, zieht sich noch ein gewelltes Restschneeband, wie ein Zitat.
15:15 Uhr, Sonne, blauer Himmel, einige weisse Wolken. Nana kommt zurück. Und, frage ich, wie war die Traumpiste? Sie sagt: oben braun und steinig, in der Mitte auch, unten ein weisses Band durch braune Wiesen hindurch. War's schön? Sie nickt. Oben auf Champatsch gab es kleine Neuschneemengen, und bis Mittag konnte man gut bis Prui hinunterfahren, auch wenn es ein wenig matschig war.
Später: Sonniger Abend. Es hat nicht geschneit.
Manfred, mein Mann, erzählt: im Fussballstadion Berlin musste das Spielfeld mit Schneemaschinen geräumt werden. Der polnische Torwart des unterlegenen FC Augsburg sagte, er habe den Schuss, der zum 0:1 führte, im Schneegestöber nicht kommen sehen.
In den Nachrichten die Meldung, Kalifornien habe dreieinhalb Meter Schnee.
Sonntag, 26. Februar, 9 Uhr: Draussen leichte Sonne und schneebestäubte Dächer. Auch das Dach, das gegen Osten zeigt, hat einen weissen Schimmer auf den roten Ziegeln. Das Blechdach gegen Norden ist weiss. Aber man sieht, dass die Schneeschicht dünn ist. Schneebericht: 32 cm auf der Motta. Bevor Nana abfährt, schaut sie in den Wetterbericht. Für Basel sind heute zu 80 Prozent Schneefall angesagt.
Dienstag, 28. Februar: Auf Mallorca sei die Schneefallgrenze bei 300 Metern, man rechnet, dass es bis auf Meereshöhe schneien könnte. Freundinnen aus Tübingen sind gekommen. Sie loben die Verhältnisse auf Champatsch. Die Traumpiste nennen sie ab der Sömmibar ein «Schneeinselhopping». Und der Schnee bremse. Man müsse wahnsinnig aufpassen, Eisplatten und aufgeworfener Schnee, sulzige, braune Stellen und Steine. Grasnarben schauten heraus.
Aber dann gäbe es auch wieder schöne Passagen, im Schatten. Und wo künstlich beschneit werde, sei die Illusion von Wintersport noch vorhanden. Absurd, sagt Sabine. Gudrun und Renate wiegen den Kopf. Alle drei gehen morgen wieder hinauf.
Am letzten Tag wollen sie auf der Prui-Terrasse einen Prui-Kaffee trinken, mit Amaretto und Sahne, oder einen Pflümlischümli.
Das Schneeband auf dem Blechdach hat sich in dicke Zuckergussflecken verwandelt.
Donnerstag, 2. März: Erica carnea, Schneeheide, sagt mein Sohn Matthias, der Staudengärtnerlehrling. Man sähe es gut, wenn man mit der Gondel hochfährt. Auch unterhalb des Sessellifts von Ftan nach Prui. Überall, wo der Schnee schmilzt, fange es an zu blühen.
Freitag, 3. März: Schneehöhe auf der Motta 28 cm. Noch alle Talabfahrten offen. Das Schneeband auf dem Blechdach gegen Norden hat sich in dicke Zuckergussflecken verwandelt, wie auf einem Krapfen.
Samstag, 4. März: Stahlblauer Himmel. Gudrun erzählt. Oben, beim Schlepplift Champatsch, schwebte auf dem planen Himmelsblau eine einzige riesige Wolke und aus ihr kamen winzige Schneeflocken geflogen. Sie schmolzen im Gesicht. Für heute war sehr schlechtes Wetter angekündigt.
Im Lift sei sie neben einem Jungen gesessen, vielleicht sieben Jahre alt. Er trug eine Medaille um den Hals, vom Freitags-Skirennen. Er erzählte ununterbrochen von seiner Abfahrt, wie er das gemacht habe. Es sei so cool gewesen. Skifahren ist cool, habe sie ihn bestätigt. Ja, habe er geantwortet, Skifahren ist so cool. Und dann strahlte er sie an: Aber es gibt noch was, das cooler ist. Und? Da habe er gegrinst: Viel cooler sei es, neben dem Papi auf dem Traktor zu sitzen.
Die letzten Schneeplatten vom Dach gegenüber sind abgerutscht.
Montag, 6. März: die Traumpiste ist gesperrt. Auf der Motta 25 cm Schnee.
Mittwoch, 8. März: Die letzten Schneeplatten vom Dach gegenüber sind abgerutscht, am Schluss standen sie über das Blech wie unkorrigierte Schneidezähne. Seit Tagen ist schlechtes Wetter angekündigt. Und die Sonne scheint.
Samstag, 11. März: Nebel, die Berge sind verschwunden. Auf der Motta Naluns 3 cm Neuschnee, 2 Grad. Auch in Sent 2 Grad. Als ich die Post reinhole, treffe ich Lehrer Andri mit seinem Enkel vor dem Haus. Auf der Strasse ein Streiflein Schnee. Der Kleine tritt hinein und beobachtet die schwarzen Abdrücke, die sich zeigen, wenn gleich der Asphalt wieder durchscheint. Schnee, sagt er.
Und im grieselnden Schneefall verschwinden die beiden wie auf einer alten Leinwand.